Massen-Demos gegen rechts
„Nie wieder ist keine Floskel, sie ist unser aller Auftrag.“
Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ist die zentrale Botschaft „Nie wieder“. Bei einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Auschwitz findet eine Überlebende klare Worte. In zahlreichen Städten waren wieder Hunderttausende auf den Straßen gegen Rechtsextremismus im Allgemeinen, gegen die AfD im Besonderen.
Sonntag, 28.01.2024, 16:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 28.01.2024, 16:21 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags haben Überlebende und Politiker zum entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aufgerufen. „Nie wieder“ sei jeden Tag, sagte Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Samstag, dem 79. Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz – und rief zur Wachsamkeit auf. Die Nazis hatten in Auschwitz mehr als eine Million Menschen ermordet, überwiegend Juden. Überlebende warnten angesichts des zuletzt erstarkten Antisemitismus vor einer Wiederholung der Geschichte.
In ganz Europa hatten die deutschen Nationalsozialisten während der Schoah etwa sechs Millionen Juden ermordet. Seit 1996 wird der 27. Januar in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen, die Vereinten Nationen haben das Datum 2005 zum Gedenktag ausgerufen.
„Für mich ist das eine Verlängerung von Auschwitz“
Bei einer Gedenkfeier in der Gedenkstätte Auschwitz in Polen äußerte eine Überlebende am Samstag ihr Entsetzen über die Massaker der Hamas und anderer terroristischer Gruppen am 7. Oktober in Israel. „Es fallen die Söhne und Töchter der wenigen geretteten Holocaust-Überlebenden, nachdem sie ein neues Leben begonnen, eine neue Heimat in Israel gefunden haben“, sagte die 94-jährige Halina Birenbaum. Erneut gebe es in europäischen Ländern wie Italien und Frankreich Demonstrationen gegen Juden und den jüdischen Staat. „Für mich ist das eine Verlängerung von Auschwitz“, sagte Birenbaum.
Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer zeigte sich besorgt über den Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland. „Ich hätte es nie gedacht, dass es wieder so kommen würde, denn so hat es ja damals auch angefangen“, sagte die 102-Jährige am Freitag den ARD-“Tagesthemen“. Für „die, die wir das erlebt haben“, sei es „besonders schwer, zu verstehen, und sehr traurig“.
2.249 antisemitische Straftaten seit dem 7. Oktober
Das Bundesinnenministerium teilte am Sonntag mit, dass seit dem 7. Oktober 2023 in Deutschland nach vorläufigen Zahlen der Polizei 2.249 antisemitische Straftaten begangen worden seien, davon stünden 1.560 im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Ein Ministeriumssprecher nannte keinen Stichtag, zu dem diese Zahlen erhoben wurden.
Bundeskanzler Scholz rief zum entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus auf. „Nie wieder ist jeden Tag“, sagte der SPD-Politiker in seinem am Samstag veröffentlichten wöchentlichen Videoformat „Kanzler kompakt“. „Der 27. Januar ruft uns zu: Bleibt sichtbar! Bleibt hörbar! Gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Menschenhass – und für unsere Demokratie.“ Scholz betonte, die heutige Demokratie gründe auf dem zentralen Bekenntnis „Nie wieder“. Das „Nie wieder“ fordere die Wachsamkeit aller, sagte der Kanzler mit Blick auf die aktuellen Demonstrationen gegen rechts, an denen sich erneut Hunderttausende beteiligten.
Erneut Massen-Demos gegen rechts
Allein in Düsseldorf waren laut Polizei bis zu 100.000 Menschen auf den Beinen. Die Demonstration stand die Demonstration unter dem Motto „Gegen die AfD – Wir schweigen nicht. Wir schauen nicht weg. Wir handeln!“ Unter den Protestierenden waren Menschen jeden Alters, darunter viele Familien mit Kindern. In Düsseldorfer Tradition marschierten die Demonstranten teilweise mit Punkmusik. Auf den Transparenten standen Aufschriften wie „Ich mag Nazis generell nicht“ und „Nicht nochmal!“ Ein 69-Jähriger, der nach eigenen Worten erstmals seit Jahrzehnten wieder in einer Demo mitlief, sagte: „Wenn wir jetzt nicht Flagge zeigen, gehen wir in eine Richtung, aus der wir nicht mehr rauskommen.“
In Kiel zählte die Polizei rund 11.500 Teilnehmer einer Demonstration gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. In Lübeck gab es laut Polizei rund 8.000 Demonstranten, in Kaiserslautern rund 6.000, in Mannheim bis zu 20.000. In Aachen waren es nach Angaben der Beamten etwa 12.500 Menschen, in Marburg mehr als 12.000. In Weimar zählte die Polizei 1.500 Menschen, in Osnabrück rund 25.000 Demo-Teilnehmern. Aber auch in kleineren Orten waren die Menschen auf den Straßen, eine Auswahl: In Singen zählte die Polizei nach ersten Angaben 4.000 Demonstranten, in Sigmaringen waren es rund 2.000 Menschen. In Neumarkt in der Oberpfalz sprachen die Beamten von rund 1.500 Menschen bei einer Demo gegen rechts, in Elmshorn von rund 6.000 Menschen.
Die bundesweiten Demonstrationen laufen nun schon seit rund zwei Wochen. Am vergangenen Wochenende hatten sich nach Angaben des Bundesinnenministeriums mehr als 900.000 Menschen an Demos gegen rechts beteiligt. Am Freitag gingen die Proteste dann weiter, etwa in Frankfurt am Main, Saarbrücken, Herne und Gütersloh.
AfD Politiker und CDU-Mitglieder beraten über „Remigration“
Auslöser der Proteste waren am 10. Januar Enthüllungen des Recherchezentrums Correctiv über ein Treffen radikaler Rechter, an dem einige AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion in Potsdam teilgenommen hatten. Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte bei dem Treffen am 25. November nach eigenen Angaben über „Remigration“ gesprochen. Wenn Rechtsextremisten den Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine große Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang. Laut Correctiv nannte Sellner drei Zielgruppen: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht und „nicht assimilierte Staatsbürger“.
In Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden im September neue Landtage gewählt. Umfragen zufolge könnte die AfD in allen drei Bundesländern stärkste Kraft werden, sogar mit deutlichem Abstand. In zwei bundesweiten Umfragen der Institute Insa und Forsa (für die „Bild“ und für RTL/ntv) aus der auslaufenden Woche verlor die AfD an Zuspruch, sie blieb mit 21,5 beziehungsweise 20 Prozent aber nach der Union die zweitstärkste Kraft. Die AfD wird in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vom jeweiligen Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch bewertet, bundesweit ist sie als Verdachtsfall eingestuft.
Faeser: „Nie wieder ist keine Floskel, sie ist unser aller Auftrag.“
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb am Samstag auf der Plattform X (vormals Twitter), Nazi-Deutschland habe „die Welt in den Abgrund der Menschlichkeit schauen lassen. Es ist an uns Lebenden, aus der Verantwortung für unsere Vergangenheit heraus unsere Gegenwart zu gestalten. Nie wieder ist jetzt.“
Zahlreiche Bundesminister zeigten sich auf X mit Schildern der Gedenkkampagne „We remember“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ordnete für die Dienstgebäude des Bundes für Samstag Trauerbeflaggung an. Bei einer Lesung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück in Fürstenberg/Havel sagte sie: „Nie wieder ist keine Floskel, sie ist unser aller Auftrag.“ (dpa/mig) Gesellschaft Leitartikel
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