Nebenan
Nie wieder ist auch in Gaza
Unser geschlossenes Weltbild, so ziemlich bequem: Einzig wir wissen, wer die Guten sind - und natürlich auch die Bösen. Und wir sind so geübt und erfahren in „Nie wieder“, dass wir uns maßlos überschätzen.
Von Sven Bensmann Montag, 04.03.2024, 10:19 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.03.2024, 17:22 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Wie angenehm es doch sein muss, ein geschlossenes Weltbild zu haben. Man weiß, wer die Guten und wer die Bösen sind, indem man sie spezifischen Buzzwörtern zuordnet – die Russen, die Amis, die Woken, die Linksgrünen, die „Globalisten“ – das gibt dem Tag Struktur, das gibt dem Leben Ordnung. So richtig Angst macht dann eigentlich nur noch das Schreckgespenst aller Minderbemittelten, die – Trommelwirbel – multipolare Weltordnung. Wenn nicht mehr die Öffentlichkeiten der USA und ihrer Vasallen in Eigenregie entscheiden, wer recht hat und wer nicht, dann wird es eben kompliziert. Am Ende stände womöglich die Notwendigkeit, moralisch zu handeln, um selbst noch zu den Guten zu gehören.
Dass der Westen damit deutlich überfordert ist, zeigt sich dieser Tage einmal mehr. Während massive Anstrengungen unternommen werden, um die Russen international zu isolieren, weil sie die Ukraine überfallen haben – und dabei, wie in jedem anderen Krieg auch, ob von den USA, Deutschland oder Russland geführt – Kriegsverbrechen geschehen, ist man an anderer Stelle erstaunlich leise.
Die israelische Regierung, neben der Höcke, Trump und Putin wie jugendliche Aiwanger aussehen, kann seit Wochen, sagen wir es mal vorsichtig, den Verdacht nicht glaubwürdig ausräumen, im Gazastreifen einen Völkermord durchzuführen. Stattdessen wird der Krieg gegen die Hamas hochstilisiert, ein totaler Sieg eingefordert und exekutiert. Dabei zeigen alle Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, dass jeder ermordete „Widerstandskämpfer“ zu einer Handvoll neuer Rekruten führt, die den Terror der Hamas stolz weitertragen: Die Hamas kann nicht durch Krieg vernichtet werden, solange noch ein einziger Palästinenser existiert.
Nun ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten:
Erstens: Netanyahu hat ein seinen Jahrzehnten in der israelischen Politik diese Lektion nicht gelernt und betreibt seine Politik weiter auf dem geistigen Niveau eines Vorschülers. Für einen Mann aus dem rechtsextremen Spektrum, der sich mithilfe von Rechtsextremisten, Fundamentalisten und allerlei anderen extremistischen, menschenverachtenden Strömungen an die Macht hat wählen lassen, ist das sicherlich nicht auszuschließen. Allzu gern lesen wir solche Leute als Vollidioten, die nur zu Vernunft kommen müssten. Wohl auch deshalb demonstrieren weiter Hunderttausende hierzulande gegen Rechtsextremismus.
„Die Bilder kennen wir ja alle, auch wenn hungernde und tote Palästinenser in den Nachrichten nicht so prominent auftauchen, wie Bilder weinender Ukrainer.“
Zweite Möglichkeit: Netanyahu plant tatsächlich einen Völkermord, eine vollständige Auslöschung der Palästinenser, beziehungsweise befindet sich bereits in dessen Ausführung – die Bilder kennen wir ja alle, auch wenn hungernde und tote Palästinenser in den Nachrichten nicht so prominent auftauchen, wie Bilder weinender Ukrainer.
Anders als im Falle Russlands werden die Israelis nur mit warmen Worten ermahnt, sie sollten doch bitte etwas vorsichtiger sein bei ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Terrororganisation Hamas und die Nicht-Terroristen ein wenig besser schützen. Aussagen, die angesichts der Kriegsrhetorik der rechtsextremen Junta in Jerusalem wohlfeil klingen, aber zwecklos sind: Netanyahu will die Hamas vollständig vernichten und das kann nun mal nur die vollständige Vernichtung der Palästinenser bedeuten. Die Grenze vom Zivilisten zum Partisanen oder Terroristen (je nach Perspektive) ist ohnehin fließend.
Und damit sind wir auch schon in Deutschland und bei dessen Nibelungentreue zum israelischen Regime angekommen. Gelenkt von Menschen, die „Nie wieder“ als Aufforderung verstehen, nie wieder Israel zu kritisieren, statt nie wieder staatlich organisierten Rassenhass und rechte Vernichtungsphantasien zu unterstützen, macht es nur Sinn, dass sich Deutschland demnächst wohl – auf Veranlassung Nicaraguas – vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Beihilfe zum Völkermord wird verantworten müssen. Und dass, wo wir doch eigentlich immer die Guten waren und selbst entschieden haben, wen wir vor den Kadi des IGH ziehen. Die USA und Israel sind sich sogar so sicher, die Guten zu sein, dass sie diesen überhaupt gar nicht erst anerkennen und zu früheren Zeiten bereits gedroht haben, politische Führer, die dort angeklagt würden, mit Waffengewalt vor einer Rechtsprechung zu bewahren. Deutschland hingegen hat den IGH und dessen Autorität anerkannt.
Kein Wunder also, dass sich die deutsche Öffentlichkeit vor einer multipolaren Welt fürchtet, in der die Rückendeckung der USA zwar der israelischen Regierung erlaubt, einen so menschenverachtenden Feldzug gegen ein ganzes Volk zu führen, aber selbst diese USA sich gezwungen sehen, per Luft Hilfsgüter an die Palästinenser zu schicken, weil es niemandem mehr vermittelbar ist, wie man dabei zusieht, dass Millionen Menschen ohne Zugang zu Nahrung und Wärme dahinvegetieren, während israelische Soldaten auf diejenigen schießen lässt, die angesichts einer der raren Hilfsgüterverteilungen in Panik geraten.
„Israel sollte einmal ein freier, demokratischer Staat sein, in der Juden vor dem weltweit grassierenden Antisemitismus geschützt sind. Diese Mission wird von der rechtsextremen Regierung unter Netanyahu zu Grabe getragen.“
Dass die USA überhaupt rhetorisch von Israel abrücken, dass Israel sich derzeit in eine Lage manövriert, in der es sich politisch weltweit isoliert, ist dabei ganz grundsätzlich ein Grund zur Sorge. Israel sollte einmal ein freier, demokratischer Staat sein, in der Juden vor dem weltweit grassierenden Antisemitismus geschützt sind. Diese Mission wird von der rechtsextremen Regierung unter Netanyahu zu Grabe getragen.
Israel kann jüdischen Menschen auch sonst keine Schutzperspektive mehr bieten. Diese Regierung, wie jede rechtsextreme Regierung, befindet sich im Krieg vor allem mit der eigenen Bevölkerung, mit all denen, die ihr rechtsextremes Weltbild nicht teilen, mit Linken, mit Pazifisten, mit allen, die nicht ins eigene schmale Weltbild passen. Und sie steht vor einem Scherbenhaufen internationaler Diplomatie, an deren Ende womöglich nicht einmal mehr ehemals wichtigste Verbündete, die bisher die Existenz dieses Staates garantiert haben, genau diese werden garantieren wollen.
Alter Zyniker, der ich bin, könnte an dieser Stelle als positives Fazit vielleicht anmerken: Der Nahostkonflikt steht kurz vor seiner Lösung, schon am Ende dieses Jahres, vielleicht am Ende des nächsten, werden entweder keine Palästinenser oder keine Israelis mehr existieren und dies bietet in der seit Jahren drehenden Spirale der Gewalt vielleicht die einzige Möglichkeit zur Lösung des Nahostkonflikts. Aber das ist selbst mir eklig.
„Wenn wir nie wieder wirklich ernst meinen, wenn wir nicht der Auslöschung eines ganzen Volkes zusehen wollen, dann muss einem palästinensischen Leben endlich derselbe Wert beigemessen werden, wie einem israelischen.“
So sehr auch insbesondere Trumps Machtbasis fanatischer Endzeitchristen genau dieses gewaltsame Ende des Nahostkonflikts herbeisehnt, weil sie glauben, dass an dessen Ende ihre Erlösung stünde: Wenn wir nie wieder wirklich ernst meinen, wenn wir nicht der Auslöschung eines ganzen Volkes zusehen wollen, dann muss einem palästinensischen Leben endlich derselbe Wert beigemessen werden, wie einem israelischen. Dann darf die militärisch organisierte Vernichtung eines ganzen Volkes nicht immer wieder mit dem – natürlich ebenso verachtenswerten – Anschlag einer Terrororganisation entschuldigt werden. Dann dürfen vier Monate Krieg nicht mit einer Nacht-und-Nebel-Aktion gleichgesetzt werden. Dann darf auch nicht so getan werden, als habe der Anschlag der Hamas im luftleeren Raum stattgefunden, oder als sei Israels Reaktion einzig und allein als Vergeltungsaktion darauf zu verstehen und nicht in der menschenverachtenden Ideologie ihrer Drahtzieher begründet.
Und dann müssen endlich alle Staaten gemeinsam, mindestens aber USA, EU und Arabische Liga beiden Kriegsparteien einen Friedensplan aufzwingen, der diesen Namen auch verdient. Um die Sicherheit unschuldiger Palästinenser zu gewährleisten, um die Sicherheit unschuldiger Israelis zu gewährleisten, um die Sicherheit von Juden und jüdischstämmigen Menschen weltweit zu erhöhen, ja sogar, um das Leben und die Sicherheit all der Schuldigen und Täter auf beiden Seiten zu wahren. Nicht zuletzt, einfach, um das Richtige getan zu haben. Schließlich wollen wir doch auch in einer multipolaren Welt noch die Guten sein. Nie wieder ist jetzt. Aber eben nicht nur in Sachsen, Thüringen oder Bayern. Nie wieder ist auch in Gaza, in Rafah und in Jerusalem. Meinung
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