Junge Geflüchtete in Pflegefamilien
„Jeder hat einen Platz am Tisch“
Kommunen suchen händeringend nach Familien, die unbegleitete Geflüchtete aufnehmen. Eine Familie am Bodensee hat zwei Jugendliche bei sich zu Hause aufgenommen. Die Integrationsarbeit spielt sich vor allem am Esstisch ab.
Montag, 11.03.2024, 14:50 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 11.03.2024, 14:51 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Alltag bei der Familie Meyer zur Müdehorst in Heiligenberg unweit des Bodensees: Teetassen stehen auf dem Esstisch, im Hintergrund ist ein Regal voll mit Spielen. Aime und Sohel (Namen von der Redaktion geändert) entscheiden sich an diesem trüben Märznachmittag mit ihren zwei Gastgeschwistern für Uno. Hund Betty darf zuschauen.
Seit vergangenem Jahr leben die beiden 16-Jährigen im gelben Haus von Bärbel und Holger Meyer zur Müdehorst. Das Paar führt einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Milchkühen im Bodenseekreis. Zwei leibliche Kinder, ein Pflegesohn und zwei Hunde gehörten schon zur Familie, als Aime und Sohel dazukamen.
„Wir haben für beide Kinder eine Collage gemacht mit Bildern ihrer Familie und der Herkunft. Es gibt auch schwierige Hintergründe“, sagt die 48 Jahre alte Pflegemutter. Aime sei vor fast einem Jahr aus Burundi nach Deutschland geflohen. Das Mädchen habe sich allein auf den Weg gemacht, was eher selten sei. Ihre Flucht sei schlimm gewesen. Sohel sei im Dezember 2022 aus Afghanistan gekommen. Seine Familie sei in dem Land geblieben. Kontakt halte er über das Smartphone.
„Jeder hat einen Platz am Tisch“
Am Esstisch unterhalte man sich über alles. „Jeder hat einen Platz am Tisch und ein eigenes Zimmer“, sagt die Gastmutter. Das sei der große Vorteil am Landleben. Gespräche würden auf Deutsch geführt. „Die Alltagsdinge klappen gut“, sagt Meyer zur Müdehorst. Zur Not nehme man einen Online-Übersetzer „oder eben die Hände und Füße zum Erklären“.
Die Entscheidung für Pflegekinder sei schon mit der Entscheidung für die eigenen Kinder gefallen. „Ich bin selbst als Pflegekind und im Kinderheim aufgewachsen“, sagt Holger Meyer zur Müdehorst. Damals habe ihm eine feste Bezugsperson gefehlt, erzählt der 51-Jährige, der eine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieher absolviert hat.
Die Familie habe sich im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine dazu entschieden, auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Doch aus der Ukraine seien keine gekommen. Der Bedarf an Gastfamilien, die jungen Flüchtlingen ein festes Umfeld bieten könnten, sei aber da gewesen.
Integrationsarbeit am Küchentisch
Auf dem Hof der Familie sei ein naturnahes Umfeld geboten, erklärt der Gastvater. Man müsse das Landleben schon mögen. Die Integrationsarbeit am Küchentisch sei enorm wichtig, findet er. „Wenn es gelingen würde, alle Menschen so zu integrieren in den Familien, hätten wir viel weniger Probleme.“ Es gebe keine echten und ehrlichen Begegnungen, wenn man die Menschen in Massenunterkünfte packe und sie unter sich blieben.
Vor allem die Unterbringung der Kinder macht den Kommunen Probleme. Im Bodenseekreis leben aktuell 95 junge Flüchtlinge ohne Eltern, wie Lars Gäbler vom Landratsamt Bodenseekreis erklärt. Zwölf davon seien in Gastfamilien untergebracht. Wegen fehlender Platzkapazitäten in regulären Einrichtungen der Jugendhilfe seien 43 Teenager in einer Notunterkunft des Landkreises untergebracht. Plätze in Gastfamilien und Jugendhilfeeinrichtungen würden dringend gebraucht.
2015 und 2016 sei die Bereitschaft dafür deutlich höher gewesen, hieß es etwa vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Berlin. Es gebe Ermüdungserscheinungen und die Stimmung in der Gesellschaft sei eine andere.
Immer weniger Gastfamilien
Laut Sozialministerium kamen bis zum vergangenen Oktober mehr als 3.600 junge Geflüchtete nach Baden-Württemberg. Die meisten kommen aus Afghanistan, es folgen mit wesentlich geringeren Zahlen Menschen aus Syrien, Guinea, der Ukraine und der Türkei. Es sind vor allem Jungs.
Die jungen Menschen seien größtenteils zwischen 16 und 17 Jahre alt, erklärte eine Sprecherin der Stadt Stuttgart. „Sie sind oftmals schon viele Monate, teilweise Jahre unterwegs und dadurch sehr belastet.“ Es gebe kaum noch Gastfamilien, die sich für die Unterbringung melden würden.
Als Gastfamilie habe man die gleichen Rechte und Pflichten wie eine Pflegefamilie. Man müsse ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen, ein gesichertes Einkommen haben und die Bereitschaft, mit dem gesetzlichen Vormund im Jugendamt zusammenzuarbeiten. Auch Gespräche und Veranstaltungen gehörten dazu.
„Man springt zwar ins kalte Wasser“
Auf die Rollen als Gasteltern haben sich die Meyer zur Müdehorsts in einem mehrmonatigen Kurs 2016 vorbereitet. „Da lernt man rechtliche Details und bereitet sich auch mit Rollenspielen auf das Leben als Pflegefamilie vor“, erinnert sich der Gastvater. Die Entscheidung dafür falle aber schon vor dem Kurs.
„Es ist eine Lebensentscheidung, die man trifft“, sagt Bärbel Meyer zur Müdehorst. „Man springt zwar ins kalte Wasser, findet sich aber schnell ein.“ Man schwimme einfach los, ergänzt ihr Ehemann. So sei es für die beiden auch im Jahr 2017 gewesen, als ihr Pflegesohn Johann (Name von der Redaktion geändert) mit eineinhalb Jahren in die Familie gekommen sei. Bei ihm sei der Pflegebedarf höher, weil er eine geistige Behinderung habe.
Organisation ist im Leben der siebenköpfigen Familie wichtig. An den Wänden hängen Wochenplaner, auf denen vermerkt ist, wer den Tisch deckt, wann Oma und Opa kommen, wer die Tiere versorgt und wann Arzttermine anstehen.
„Wir sind für sie da“
„Für fünf Kinder Zahnarzttermine zu machen, ist schon sportlich“, sagt die Pflegemutter. Auch seien ein paar Elternabende dazugekommen. Diese Seite des Alltags gehöre ebenso dazu. Und im Urlaub sei der Platzbedarf nun größer. „Im Urlaub hatten alle nur ein Bad. Das war katastrophal“, meint Tochter Jorinde. Man lerne dazu, ergänzt ihre Mutter.
Es sei zu Beginn ungewohnt gewesen, zwei ältere Gastgeschwister zu bekommen, sagt die 14-Jährige. „Wir spielen abends immer Spiele zusammen oder schauen einen Film. Wir machen wirklich viele Sachen zusammen als Geschwister. Das ist richtig cool“, findet ihr 12 Jahre alter Bruder Arvid.
Wie lange Aime und Sohel bleiben würden, sei noch nicht klar, erklärt die Pflegemutter. Das hänge auch von ihrer weiteren Lebensplanung ab. Mit 18 müssten sie sicher nicht ausziehen. „Wir sind für sie da, solange sie uns brauchen.“ (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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