Symbolpolitik
Neue Einbürgerungstests pervertieren Holocaust-Verantwortung
Das neue Staatsangehörigkeitsgesetz mit zusätzlichen Einbürgerungsfragen soll vorgeblich der Bekämpfung von Antisemitismus dienen. Tatsächlich wird Holocaust-Verantwortung pervertiert.
Von Rosa Fava Donnerstag, 11.04.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 18.04.2024, 10:37 Uhr Lesedauer: 16 Minuten |
Eine Reihe von Maßnahmen im modernisierten Staatsangehörigkeitsgesetz, das am 26. Juni in Kraft tritt, soll vorgeblich der Bekämpfung von Antisemitismus dienen. Tatsächlich knüpfen die Restriktionen an eine lange verankerte Zuschreibung von Antisemitismus an Ausländer:innen an und suggerieren Handlungsfähigkeit, die es nicht gibt.
Aktuell ist erneut „Ausländerkriminalität“ großes Thema und wieder soll das Böse von außen kommen und draußen gehalten oder dorthin, wo es herkommt, befördert werden. So soll auch Antisemitismus draußen bleiben: „Neue Testfragen sollen die Einbürgerung von Antisemiten verhindern“, titelten fast gleichlautend Ende März die Tagesschau und viele andere Medien. Es geht um den Einbürgerungstest, eine Prüfung, die Einbürgerungswillige seit September 2008 bzw. in veränderter Form seit 2013 absolvieren müssen, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Damit sollen „Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland“ nachgewiesen werden. Was jede:r als Deutsche:r Geborene im Laufe des Lebens durch Alltagspraxis mehr oder weniger fundiert erwirbt, sollen Ausländer:innen als Leistung vorab erbringen. So müssen Ausländer:innen, darunter auch lange hier lebende oder geborene Menschen, generell schon deutscher als Deutsche sein, um durch die Einbürgerung nicht nur die gleichen Rechte wie diese zu erlangen, sondern irgendwie messbar auch so etwas wie eine deutsche Wesensart.
Wissen oder Nichtwissen als Indikator?
Der Test soll nun, so die Nachrichten, das Deutschwerden verhindern, wenn Personen bei antisemitismusrelevanten Fragen falsch antworten. „Unter anderem soll abgefragt werden, wie ein jüdisches Gebetshaus heißt, wann der Staat Israel gegründet wurde und wie Holocaustleugnung bestraft wird“, führt die Tagesschau aus. Sie enthüllt aber nicht, ob man bei der Abfrage als Antisemit:in durchfällt, wenn man die Antwort nicht weiß oder sie weiß:
„Interessiert man sich eher dafür, wie Holocaustleugnung bestraft wird, wenn man ihn leugnen will oder wenn man Antifaschist:in ist?“
Gehen die Testfragenentwickler:innen davon aus, dass ein Antisemit wie der Attentäter von Halle 2019 wusste oder dass er nicht wusste, dass der Ort, den er aufsucht, um dort Juden:Jüdinnen zu ermorden, „Synagoge“ heißt? Hätte das Wissen oder das Nichtwissen seine Tat verhindert? Wären die drei Männer palästinensischer Familienherkunft, die 2014 die Wuppertaler Synagoge mit einem Molotow Cocktail bewarfen, „um auf den Krieg in Gaza aufmerksam zu machen“, mit vorherigem Test stattdessen zur israelischen Botschaft gefahren? Fehlte den Richter:innen mit wahrscheinlich deutscher Familienherkunft in Nordrhein Westfalen ein Integrationskurs, damit sie den Angriff als antisemitisch hätten beurteilen können? Weiß man, dass Israel 1948 gegründet wurde, wenn man das Land als jüdisches Kollektiv von der Landkarte streichen will oder wenn es einem nichts weiter bedeutet, man aber gut in Geschichte ist? Interessiert man sich eher dafür, wie Holocaustleugnung bestraft wird, wenn man ihn leugnen will oder wenn man Antifaschist:in ist? Gehört die Antwort ‚Ausbürgerung und Abschiebung bei weniger als zehn Jahren Deutschsein“ schon dazu? Was muss man beim Single-Choice-Test (nur eine von mehreren Antwortmöglichkeiten ist richtig) also antworten, wenn man gar nicht antisemitisch ist und dennoch Deutsche:r werden möchte?
Naive Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge
Der ungeschickte Titel erfasst treffend die Absurdität der vorgeblichen Absicht, Antisemitismus entgegenzuwirken, indem einzelne Ausländer:innen – so viele Einbürgerungswillige gibt es ohnehin nicht – keine Deutschen werden. Dies nicht nur, weil man jahrzehntelangen Umfragewerten zufolge eher gut ins deutsche Kollektiv passt, wenn man einen gewissen Antisemitismus pflegt, vor allem den in der Regel bei 40 Prozent liegenden israelbezogenen. Wobei der neu entfachte Antisemitismus, der die israelische Kriegsführung gegen die Hamas in Gaza aktuell zum Anlass nimmt, noch gar nicht einbezogen ist. Tatsächlich geht es in den Regelungen zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts darum, dass Einbürgerungswillige sich – prüfungsgerecht – mit jüdischem Leben, Antisemitismus und der deutschen Verantwortung für Existenz und Sicherheit Israels befassen sollen. Dennoch macht das die Testfragen und neue Schwerpunkte in den für viele Ausländer:innen obligatorischen „Integrationskursen“ nicht sinnreicher, denn sie basieren auf naiven Annahmen über Wissen und Wirkung:
„Wer von Antisemitismus oder Rassismus getrieben ist, befasst sich oft obsessiv mit der erkorenen Feindgruppe.“
Zwar gibt es das Phänomen, dass wenig Wissen über eine soziale Gruppe dazu beiträgt, klischeehafte Vorstellungen zu übernehmen oder stereotype Darstellungen in der Alltagskultur gar nicht zu hinterfragen, aber gerade wer von Antisemitismus oder Rassismus getrieben ist, befasst sich oft obsessiv mit der erkorenen Feindgruppe. Das Problem ist nicht, ob Antisemit:innen wissen, wie das Gebetshaus von Juden:Jüdinnen heißt, sondern dass sie falsche und verschwörungsideologische Vorstellungen von Synagogen und Juden:Jüdinnen haben. Ebenso kann es für die Feinde Israels bedeutsam sein, genau zu wissen, wann Israel gegründet wurde, um scheinbar historisch fundiert Propaganda gegen das Land zu betreiben.
Bei einer weiteren bekannt gewordenen Testfrage geht es darum, wer Mitglied in den jüdischen Makkabi-Sportvereinen werden dürfe. Dass die Vereine offen für alle sind, können Antisemit:innen deuten und nutzen, wie es in ihr Weltbild passt. Schließlich müssen Antisemit:innen den Holocaust gar nicht unbedingt leugnen, wenn sie gerade die Jahrzehnte alte Anschuldigung wiederholen wollen, die Israelis würden mit den Palästinenser:innen dasselbe machen wie die Nazis mit den Juden.
Trivialisierung der deutschen Verantwortung aus dem Holocaust
Die Testfragen sind, weil man aus rechtlichen Gründen eine politische Gesinnung noch nicht direkt abfragen will, der Versuch, sie indirekt herauszufinden. Diese Intention zeigt sich in der Begründung der Maßnahme: „Aus dem deutschen Menschheitsverbrechen des Holocaust folgt unsere besondere Verantwortung für den Schutz von Jüdinnen und Juden und für den Schutz des Staates Israel. Diese Verantwortung ist Teil unserer heutigen Identität“, zitiert die Tagesschau die Innenministerin Nancy Faeser. Und weiter: „‘Wer Deutsche oder Deutscher werden möchte, muss wissen, was das bedeutet und sich zu dieser Verantwortung Deutschlands bekennen‘, sagte Faeser. ‚Dieses Bekenntnis muss klar und glaubhaft sein. Deshalb verändern wir […] jetzt auch den Einbürgerungstest.‘“
„Die Bundesregierung reduziert damit die ohnehin meist als Floskel gebrauchte „besondere deutsche Verantwortung“ aus den Verbrechen an den Juden:Jüdinnen auf platte Wissensbestände und pervertiert sie zum Mittel einer nicht mehr so genannten Ausländerpolitik.“
Deutsche Verantwortung lasse sich also, folgt man dem Innenministerium, auf Kenntnisse wie „Synagoge = jüdisches Gebetshaus“ und „1948 = Gründung Israels“ herunterbrechen. Eine politische Haltung, einem Schwur ähnlich „Bekenntnis“ genannt, soll sich an diesen Formeln erkennen lassen. Die Bundesregierung reduziert damit die ohnehin meist als Floskel gebrauchte „besondere deutsche Verantwortung“ aus den Verbrechen an den Juden:Jüdinnen auf platte Wissensbestände und pervertiert sie zum Mittel einer nicht mehr so genannten Ausländerpolitik.
Widerspruch ist nicht zu vernehmen, so wie es generell seit der Einführung von Einbürgerungstests und Integrationskursen keine grundsätzliche Kritik mehr daran gibt. Kien Nghi Ha, ein früher Protagonist der Rassismuskritik, hat die Umkehrung der migrantischen Forderungen nach Deutschunterricht und anderen Unterstützungsleistungen in obligatorische und für Repressionen und Sanktionen gebrauchte Deutsch- und Orientierungskurse treffend als „nationalpädagogische Macht- und Selektionsinstrumente“ benannt. Mit dem Gesetz zur Steuerung und Begrenzung (sic!) der Zuwanderung (nicht: Einwanderung) von 2005, nach einer Abkehr vom ausschließlichen Abstammungsprinzip 2000, wurde mit den Integrationskursen und Tests eine neue Hürde installiert, um das vorher kaum mögliche Übertreten ins Deutschsein weiterhin als substanzielle Wandlung zu markieren.
Deutsche Identitätspolitik durch Abgrenzung
Realistisch betrachtet sind die Testfragen bedeutungslos: Man muss bislang im Einbürgerungstest, auf den man sich vorbereiten kann, lediglich die Hälfte der 33 Fragen, die aus einem großen Pool zufällig zusammengestellt werden, richtig beantworten, zudem kann der Test wiederholt werden. Auch weil die Fragen zur deutschen Verantwortung aus dem Holocaust, wenn sie nicht, wie in der Schule die Deutsch- und Mathematiknoten, besonders gewichtet werden, gar nicht entscheidend sind, verhindern sie nicht die Einbürgerung von bis dahin unauffälligen Antisemit:innen.
„Die deutsche Identität als frei von Antisemitismus sowie der Sicherheit und Existenz Israels verpflichtet muss über die Abgrenzung von anderen, denen kollektiv Antisemitismus und eliminatorische Israelfeindlichkeit zugeschrieben wird, erfahrbar gemacht werden.“
Dies verweist auf die eigentliche und symbolische Bedeutung der Maßnahme: Die Affirmation der „heutigen Identität“ (Faeser), einer deutschen Identität, die sich wie jede Identität durch Abgrenzung von Anderen vorgeblich ohne eine solche Identität herstellt. Die deutsche Identität als frei von Antisemitismus sowie der Sicherheit und Existenz Israels verpflichtet muss über die Abgrenzung von anderen, denen kollektiv Antisemitismus und eliminatorische Israelfeindlichkeit zugeschrieben wird, erfahrbar gemacht werden. Und dazu wird enormer Aufwand betrieben.
Unterhalb der Nachrichtenschwelle: Antisemitismus-Filter und -Checks
Die Neujustierung des Einbürgerungstests wurde schon länger diskutiert und knüpft an vorherige Symbolpolitik an, eine Gesetzesverschärfung von 2021: Im August, nach massiven israelfeindlichen und antisemitischen Kundgebungen und Ausschreitungen im Mai, wurde der Katalog an Straftaten, die eine Einbürgerung verhindern, explizit um „rechtswidrige antisemitische, rassistische, fremdenfeindliche oder sonstigen menschenverachtende“ Taten erweitert. Rassismus und sonstige Menschenverachtung spielten im Diskurs um die Gesetzesverschärfung kaum eine Rolle, sondern wurden wie ein Feigenblatt am Ende zugefügt. Die Anfang diesen Jahres beschlossenen Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht, die ab Sommer in Kraft treten sollen, erweitern den Verdacht gegen Ausländer:innen nun auch auf nicht straffällige Personen.
„So hat der NS-Nachfolgestaat, wenn das Grundgesetz im Mai 75 Jahre alt wird, dank Maßnahmen gegen Ausländer:innen endlich einmal klargestellt, dass Antisemitismus und Rassismus nicht zu seiner Grundordnung gehören.“
Im Rechtsmagazin Legal Tribune Online werden die Versuche der Regierung, durch Regelungen im neuen Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts die „Einbürgerung von Antisemiten zu verhindern“, ausführlich diskutiert. Drei „Antisemitismus-Filter“ sind demnach in der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vorgesehen: Erstens: Das schon bisher erforderliche „Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ (FDGO) wird um die Formel erweitert, dass „antisemitisch, rassistisch oder sonstige menschenverachtend motivierte Handlungen“ mit dem Grundgesetz und der FDGO nicht vereinbar seien. So hat der NS-Nachfolgestaat, wenn das Grundgesetz im Mai 75 Jahre alt wird, dank Maßnahmen gegen Ausländer:innen endlich einmal klargestellt, dass Antisemitismus und Rassismus nicht zu seiner Grundordnung gehören. Damit ein:e Ausländer:in sich nicht „unredlich“ zur FDGO bekennt, soll nicht nur nach Anhaltspunkten dafür gesucht, sondern die Einbürgerung innerhalb von zehn Jahren zurückgenommen werden können.
Zweitens: Ausländer:innen müssen sich weiter „zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihren Folgen, insbesondere für den Schutz jüdischen Lebens, sowie zum friedlichen Zusammenleben der Völker und dem Verbot der Führung eines Angriffskrieges“ bekennen. Hier fragt sich vielleicht, welche nicht-besondere historische Verantwortung eigentlich andere Staaten für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft haben, ein erneuter Verweis auf das Erstarren der Verantwortung zur Floskel. Laut Kommentar soll die im Gesetzesentwurf allgemein gehaltene Formulierung „friedliches Zusammenleben der Völker“ ein von CDU/CSU gefordertes explizites Bekenntnis zum Existenzrecht Israels ersetzen. Zum zweiten Filter nennt der Kommentar keine vorgesehenen Sanktionen, so dass Eingebürgerten freizustehen scheint, sich einem geschichtsrevisionistischen Verein anzuschließen und eine geschichtspolitische Wende um 180° zu betreiben.
Drittens: Vorgesehen ist ein „Antisemitismus-Check“ durch Staatsanwaltschaften, der Einbürgerungsbehörden verpflichtet, über die Staatsanwaltschaft prüfen zu lassen, ob Einbürgerungswillige bei Straftaten unabhängig von ihrer Höhe eine antisemitische (rassistische etc.) Motivation verfolgt haben.
Maßnahmen gegen Ausländer:innen als Ersatzhandlung
Was als Einbürgerungstest harmlos und etwas lächerlich daherkommen mag, ist für Einbürgerungswillige im Gesamtkontext der Gesetzesänderungen tatsächlich ein tiefer Eingriff und womöglich biografisch entscheidend. Eine Strafe dafür, nicht als Deutsche:r geboren zu sein. Selbstverständlich sind es bestimmte Gruppen, die eher als andere pauschal verdächtigt werden, „sich nicht redlich zur FDGO bekennen (zu) können“ und lediglich „Lippenbekenntnisse“ von sich zu geben.
„Wie gegen deutsch geborene Antisemit:innen und Israelfeind:innen vorzugehen ist, weiß man nicht. Man agiert sich an anderen Objekten aus.“
Antisemitismus soll durch solche Gesetzesänderungen und all die dafür erforderlichen Maßnahmen, politischen Inszenierungen und Debatten als etwas erscheinen, was durch Fremde von außen in Deutschland eindringe und durch Grenzziehung eingehegt werden könne. So soll das deutsche Selbstbild aufrechterhalten und reaktualisiert werden, aus den Verbrechen des Nationalsozialismus gelernt zu haben und nun frei von Antisemitismus zu sein. Gleichzeitig suggeriert eine Gesetzesverschärfung Aktivität und souveränes Handeln auf zugleich populistische Art, die Rassismus und deutschen Nationalismus nährt. Bekämpft werden die Anderen, nicht der Antisemitismus. Sozialpsychologisch lässt sich das als Ersatzhandlung deuten: Wie gegen deutsch geborene Antisemit:innen und Israelfeind:innen vorzugehen ist, weiß man nicht, und schon das Eingeständnis der Virulenz von ‚eigenem‘ Antisemitismus, nicht nur bei Rechtsextremen, ist unerträglich. So agiert man sich an anderen Objekten aus.
„Sie müssen wissen, dass sie Deutsche werden wollen und nicht Franzosen, Briten oder sonst jemand“
Die Externalisierung von Antisemitismus auf Andere und symbolische Handlungen zur Affirmation einer deutschen Identität als durch den Holocaust gestiftete Verantwortungsgemeinschaft für Juden:Jüdinnen und für Israel ist dabei gar nicht so neu: Bereits 2006, als die Integrationskurse und Einbürgerungstest eingeführt wurden bzw. werden sollten, war das Abtesten eines entsprechenden „Bekenntnisses“ Thema. Integrationskurse sind obligatorisch für die meisten Einwanderungswilligen, die in Deutsch- und Orientierungskursen an das Deutschsein herangeführt werden sollen, und über ihren konkreten Charakter wurde viel diskutiert. Ein Interview mit Armin Laschet, damals in Nordrhein Westfalen Minister u.a. für „Integration“, vom März 2006 in der WELT gibt pointiert wieder, was nun fast zwanzig Jahre später gesetzlich festgeschrieben wird:
“WELT: Wie sollte der Staatsbürgertest aussehen? Soll er nach deutscher Geschichte, Politik, Geografie fragen? – Laschet: Das gehört dazu. Vor allem aber geht es um den Nachweis der Beherrschung der deutschen Sprache. […] Und außerdem ist für mich das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels eine zwingende Voraussetzung. Deutsche Geschichte ist nicht nur Beckenbauer und Goethe, sondern auch Auschwitz. – WELT: Sind wir da nicht wieder beim Gesinnungstest? – Laschet: Nein. Es geht um Geschichtskenntnisse und die Lehren daraus. Deutschland hat eine besondere Verantwortung dafür, dass der Antisemitismus immer bekämpft wird. – WELT: Sollen sich Ausländer für Auschwitz schämen? – Laschet: Es geht nicht um Scham. Aber sie müssen wissen, dass sie Deutsche werden wollen und nicht Franzosen, Briten oder sonst jemand. Ausländer, die den deutschen Pass wollen, müssen sich der Verpflichtung stellen, die sich aus der ganzen deutschen Geschichte ergibt.”
Wie Sprache, Fußballer und Dichter soll „das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels“ Deutsche im Gegensatz zu anderen Nationen definieren. Ob Franzosen und Briten sich mehr oder weniger als Deutsche zum Existenzrecht Israel bekennen, wird im Anschluss genauso wenig diskutiert wie die Frage, wie viele Deutsche es überhaupt tun. Vor der prominenten Ansprache Angela Merkels 2008 in Israel zur Sicherheit des Landes als deutscher Staatsräson, zwei Jahre nach dem Interview, war die Losung zwar lange außenpolitische Praxis, aber kaum Gegenstand des öffentlichen Diskurses – und in der Bevölkerung verankert ist das Bekenntnis wohl auch heute noch weniger als Goethe.
„Könnten wir in Zukunft deutsche Soldaten muslimischen Glaubens für die Sicherheit Israels in den Einsatz schicken?“
Wie sehr die deutsche Identität Andere braucht, die stärker anders sind als nur Franzosen und Briten, zeigt sich an den beständigen Diskussionen über Antisemitismus unter Migrant:innen oder Muslim:innen seit den islamistischen Anschlägen gegen die USA 2001 und in folgenden Jahren in Europa. 2010, zum 65. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, veröffentlichte DIE ZEIT ein ganzes Dossier zum Thema „Die Deutsch-Türken und der Holocaust“.
„Er ist und bleibt ein Muslim und gilt damit wie alle Muslim:innen als Gefahr für die deutsche Identität als Schutzmacht Israels. Israel selbst scheint sich solche deutschen Fragen nicht zu stellen und vereidigt die freiwilligen muslimischen Soldaten auf den Koran.“
Im Fokus steht auch dort die Frage nach dem möglichen Verlust der israelbezogenen deutschen Identität durch ‚Fremde als Deutsche‘: „Angenommen, nur einmal angenommen, Cem Özdemir würde irgendwann der erste deutsche Außenminister mit Migrationshintergrund – was würde er dann bei seinem Antrittsbesuch in Israel sagen?“, fragt „Die Zeit“ aus Anlass des 27. Januar 2010. Özdemir, der noch ohne Staatsbürgerschaftstest Deutscher wurde, lässt sich nun nachträglich einer Bekenntnisprüfung unterziehen. Zunächst wird er gefragt, was er tue, wenn er nach Israel fahre, und antwortet korrekt, dass er als Vorsitzender einer deutschen Partei auch die Gedenkstätte für die Opfer der Shoah, Yad Vashem, besuche. Weiter will die ZEIT wissen, ob die Sicherheit und das Existenzrecht Israels tatsächlich Teil der deutschen Staatsräson seien, und Özdemir weiß richtig zu erwidern: Jede Generation, Marie-Luise und Maximilian, aber auch Ali und Ayşe müssten das immer neu begründen. Die bereits übergriffige Frage „Wie weit geht diese Staatsräson für einen deutschen Politiker mit Ihrem biografischen Hintergrund?“ – Leser:innen wissen dass keine rechtsextremen Aktivitäten in der Jugend, sondern die Einwanderung der Eltern gemeint ist – kulminiert ohne Pause in einer großen Entlarvung: „Anders gefragt: Könnten wir in Zukunft deutsche Soldaten muslimischen Glaubens für die Sicherheit Israels in den Einsatz schicken?“
Da kann der kaum durch Religiosität aufgefallene Cem Özdemir noch so viele Jahre deutsche (Innen-)Politik gemacht haben und im Anzug staatsmännisch vom Zeitungsblatt den Leser:innen in die Augen blicken: Er ist und bleibt ein Muslim und gilt damit wie alle Muslim:innen als Gefahr für die deutsche Identität als Schutzmacht Israels. Israel selbst scheint sich solche deutschen Fragen nicht zu stellen und vereidigt die freiwilligen muslimischen Soldaten auf den Koran. Die rassistischen Implikationen übergeht Özdemir und spricht über die Grenzen, die der Europäischen Union in Sachen Sicherheitsgarantien bei einem Frieden zwischen Israel und Palästina gegeben seien.
„… dass wir auch wirklich bereit sind, unser Leben für den Staat Israel einzusetzen und das spüre ich nicht“
Anders als Özdemir würde der qua Geburt und Eltern Deutsche Alexander Gauland einen Einbürgerungstest vielleicht nicht bestehen, jedenfalls nicht „glaubhaft“ (Faeser): Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD erstmals in den Bundestag einzog und ihr realistisch erschien, einst die Geschicke Deutschlands (mit-)lenken zu können, entfuhr dem stellvertretenden Parteivorsitzenden seine Einschätzung des Volksempfindens: „Wenn es wirklich zum Schwur kommt, wird es schwierig. Sie müssen ja dann, wenn sie sagen, das Existenzrecht Israels gehört zur Staatsräson Deutschlands, dann müssen wir auch bereit sein, deutsche Soldaten zur Verteidigung des jüdischen Staates einzusetzen. (…) In Israel gibt es dauernd Krieg. Zur Staatsräson müsste dann gehören, dass wir auch wirklich bereit sind, unser Leben für den Staat Israel einzusetzen und das spüre ich nicht.“ Sehr schnell und ohne Test bekam Gauland die Gelegenheit, sich zu korrigieren und die Staatsräson zu affirmieren.
Aktuell ist weniger als jemals zuvor zu spüren, dass viele den jüdischen Staat im Kampf gegen die Hamas auch nur unterstützen wolle, und Deutsche jeglicher Herkunft riefen schon letzten Herbst auf Kundgebungen „Free Palestine from German guilt“. Mit symbolischen Maßnahmen der harten Hand gegen Ausländer:innen lässt sich kein Bollwerk gegen Antisemitismus errichten, er ist schon da. Meinung
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