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Schule © onnola @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

GEW zum Startchancen-Programm

Soziale Schere geht auch an Schulen immer weiter auseinander

Zum kommenden Schuljahr startet das Startchancen-Pogramm von Bund und Ländern mit 20-Mrd.-Budget an zunächst rund 2.000 Schulen in benachteiligten Stadtteilen. Ziel ist es, mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Das sei ein guter Ansatz, sagt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Gespräch. Dennoch sieht sie die Pläne kritisch.

Von Montag, 24.06.2024, 12:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 24.06.2024, 12:33 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nennt das Startchancen-Programm für Schulen in sozial benachteiligten Orten das „größte langfristige Bildungsprojekt in der deutschen Geschichte“. Die fachlichen Meinungen gehen auseinander. Wie bewerten Sie das Programm grundsätzlich?

Anja Bensinger-Stolze: Wir begrüßen das Startchancen-Programm. Es ist gelungen, dass ein Teil der Gelder nach Sozialindex verteilt wird. Der zeigt die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft einer einzigen Schule. Das ist im Vergleich zur Vergangenheit und der Mittelvergabe nach dem „Königsteiner Schlüssel“ ein echter Durchbruch. Allerdings werden viel zu wenig Finanzmittel bereitgestellt und der Anteil der Gelder, die bedarfsgerecht an die Schulen verteilt werden, ist viel zu niedrig. Zudem sollte das Programm länger als zehn Jahre laufen, also verstetigt werden.

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Ist überhaupt schon klar, wie die unterstützen Schulen das Geld verwenden? Und etwa auch mehr Schulsozialarbeiter einstellen?

„Das Programm erreicht nur rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler – gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet.“

Nein. Aber uns ist wichtig, dass die Gelder dort ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden: an Schulen in benachteiligten Stadtvierteln und bei den armen Familien und Kindern. Das Programm erreicht nur rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler – gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet. Trotzdem ist das Programm natürlich ein Schritt nach vorne. Allerdings werden nur 4.000 von rund 40.000 Schulen zusätzliche Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter bekommen. Der Bedarf ist jedoch erheblich höher.

Ist mit diesem Programm wirklich ein wirksames Mittel im Kampf gegen zunehmende Ungleichheit in der schulischen Bildung möglich?

Das Programm ist grundsätzlich zu klein angelegt. Wie groß seine Wirkung mit Blick auf mehr Förderung benachteiligter Schulen sowie deren Schülerinnen und Schüler und mehr Chancengleichheit sein wird, lässt sich im Moment noch nicht seriös abschätzen. Ungleiches muss ungleich behandelt werden, jetzt werden Schulen in schwierigen sozialen Lagen sowie arme Kinder und Familien besonders gefördert. Aber es bedarf guter Konzepte bei der Umsetzung.

Von den Ländern erwarten wir, dass sie die Schulen und Schulleitungen bei der Administration des Programms, der Schulentwicklung, der pädagogischen Umsetzung und durch Fortbildung sowie mit zeitlichen Ressourcen unterstützen. Das ist wichtig, damit nicht immer wieder Schulen allein aufgrund fehlender Zeit und Kompetenzen am Procedere scheitern. Denn das Programm richtet sich ja gerade an die Schulen, die häufig besonders unter dem Lehrkräftemangel leiden.

Sie hätten sich einen anderen Ansatz gewünscht…

Wir hatten mit dem Gutachten des Wissenschaftlers Detlef Fickermann einen Vorschlag vorgelegt, wie die Verteilung der Bundes- und Landesmittel nach Sozialindex gestaltet werden könnte – und zwar auf allen Ebenen des Bildungssystems, nicht nur bei den Bundesmitteln. Dessen Umsetzung wäre sicherlich wirksamer gewesen als die derzeitigen Pläne. Weitergehende Ansätze, die aber derzeit politisch nicht gewollt sind, sind sozialpolitische Maßnahmen, die die Kinderarmut ernsthaft bekämpfen sowie der Abbau der sozialen Selektion im Schulwesen.

Warum ist das so wichtig?

„In kaum einem anderen Land sind die sozial bedingten Unterschiede zwischen den Schulen so groß wie in Deutschland.“

In kaum einem anderen Land sind die sozial bedingten Unterschiede zwischen den Schulen so groß wie in Deutschland. Wir leisten uns Schulen, in denen sich die Probleme derart konzentrieren, dass diese womöglich auch mit befristeten zusätzlichen Mitteln nur schwer erreichbar sind.

Generell wird mehr Geld für die schulische Bildung gefordert. Auch viele andere Schulen, die nun nicht gefördert werden, beklagen fehlende Investitionen. Geht die Ampel hier dennoch den richtigen Weg?

Ja, der Weg der Bundesregierung, die Länder in der Schulpolitik gezielt zu unterstützen, ist richtig. Die soziale Schere geht auch an den Schulen immer weiter auseinander. Das Startchancen-Programm kann nur ein Einstieg in eine dauerhafte, solide Finanzierung benachteiligter Schulen, der Schulen insgesamt sein. Jede Regierung ist gut beraten, Bildung insgesamt aufzuwerten und soziale Schieflagen abzubauen, weil dies allein schon der eklatante Fachkräftebedarf erfordert. In jüngster Zeit sind daher zunehmend auch Stimmen aus der Wirtschaft zu hören, die davor warnen, zu viele „Bildungsverliererinnen und -verlierer“ zu produzieren, statt die Bildungspotenziale besser auszuschöpfen.

Wenn die Strukturen durch das Programm erst mal aufgebaut sind, muss man hoffen, dass die Förderzusage auch auf Dauer steht. Ist das aber realistisch, wenn in anderthalb Jahren ein neuer Bundestag gewählt wird?

Das Programm ist auf zehn Jahre angelegt. So lange gelten auch die finanziellen Zusagen, die jetzt gemacht worden sind. Wir werden darauf achten, dass das Programm nach diesem Zeitraum wissenschaftlich evaluiert wird. Nachdem erste Erfahrungen gesammelt worden sind, muss das Programm nachjustiert und möglichst ausgeweitet werden.

Jetzt soll alles sehr schnell gehen: Laut Bildungsministerium profitieren schon ab August 2.060 Schulen. Können nach den Sommerferien auch bereits neue Schulsozialarbeiter:innen zum Einsatz kommen oder braucht das doch noch mehr Zeit?

Dafür wird die Zeit wohl knapp, da die Stellenbesetzungsverfahren in der Regel länger dauern. Jetzt kommt es darauf an, die Stellen schnellstmöglich auszuschreiben.

Würde man mal rein rechnerisch eine solche Stelle je Schule kalkulieren, dann bräuchte man 4.000 Fachkräfte. Sind die am Jobmarkt überhaupt verfügbar?

Nein, auch hier gibt es einen Mangel, und auch hier muss stark nachgearbeitet werden, zumal die Quote der Studienanfängerinnen und -anfänger derzeit sogar eher rückläufig ist. Derzeit wird viel über fehlende Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher gesprochen. Aber auch die Schulsozialarbeit muss als Beruf attraktiver werden – nicht zuletzt mit Blick auf die Bezahlung, damit besonders die benachteiligten, aber perspektivisch alle Schulen ihre Arbeit auf multiprofessionelle Teams stützen können. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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