Zukunftstraum Deutschland
Warum junge Türken ihr Land verlassen
Immer mehr junge Türken wollen das Land verlassen – und am liebsten nach Deutschland. In keinem Land haben deutsche Auslandsvertretungen 2023 mehr Visaanträge bearbeitet.
Von Anne Pollmann Sonntag, 30.06.2024, 15:48 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 30.06.2024, 15:48 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Mustafa Aydın hat es eilig. Der Istanbuler Musiker hetzt von Wohnungsbesichtigung zu Wohnungsbesichtigung in Berlin, dem Ort, an den er sich lange gesehnt hat. Nun ist er da, nach langen Visastrapazen. Hier in der deutschen Hauptstadt will sich der Live-Techno-Performer ein neues Leben aufbauen und ist einer von Tausenden jungen Türken, die ihr Land hinter sich lassen wollen.
Laut einer Umfrage des Instituts Habitat von 2023 möchte fast die Hälfte der Türkinnen und Türken zwischen 18 und 29 Jahren ins Ausland umziehen, die meisten nach Deutschland. 2019 waren es jeder Vierte. In keinem anderen Land bearbeiteten deutsche Auslandsvertretungen 2023 so viele Visaanträge wie in der Türkei, hieß es aus dem Auswärtigen Amt (AA). Die genau Zahl der Anträge veröffentlicht das Ministerium nicht, sondern nur die erteilten Visa. Das waren vergangenes Jahr mehr als 46.000 nationale und knapp 200.000 Schengenvisa. Im Gegensatz zu Schengenvisa, die auf 90 Tage begrenzt sind, werden nationale Visa für längerfristige Aufenthalte ausgestellt. Laut AA wurden zudem 17.000 Visa an Betroffene der Erdbeben am 6. Februar erteilt.
Dennoch: Im Zeitraum 2018 bis 2023 wurden nur für Menschen aus China mehr Visa erteilt, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde. Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres hat Deutschland fast 16.000 nationale Visa für türkische Antragsteller ausgestellt. 2019 waren es im gleichen Zeitraum weniger als die Hälfte.
Habitat fragte auch nach den größten Sorgen der jungen Befragten. Am häufigsten wurden die Inflation im Land genannt. Im Mai lag sie bei 75 Prozent.
Zermürbende Wirtschaftslage
„Mich haben die sich rasch ändernden wirtschaftlichen Bedingungen in der Türkei sehr zermürbt. Die steigenden Preise für Miete, Atelier und Materialien haben mein Schaffen erheblich beeinträchtigt“, sagt auch Ece Ağırtmış. Die Künstlerin entwirft Holzskulpturen, die an Spielzeuge, Cartoons und Animationen erinnern, und lebt seit Anfang dieses Jahres in Berlin. Vorher hat sie lange mit dem Gedanken gespielt, ins Ausland zu gehen, zunächst aus Neugier. „Ich wollte mehr Künstler treffen und die Kunstszene in Europa aus nächster Nähe sehen.“ Nach dem Erdbeben am 6. Februar 2023, bei dem allein in der Türkei 50.000 Menschen zu Tode kamen und in ihr große Trauer ausgelöst habe, fasste die 29-Jährige endgültig den Entschluss, das Land zu verlassen.
Für Mustafa Aydın war es besonders der zunehmende politische Druck auf die kulturelle Szene in Istanbul, der ihn zum Umzug bewegt hat. „In Istanbul Musik zu machen, wurde immer schwieriger.“ Der Enddreißiger ist Teil des Live-Techno-Duos Hiccup, und damit in Istanbul ziemlich einzigartig. „Ich wollte nach Berlin, weil es die Heimat unserer Musik ist.“ Auch in Istanbul gibt es eine lebendige Untergrundkultur, „die bekommt aber keine Unterstützung, schon gar nicht vom Staat“, sagt der studierte Tonmeister. „Was man verdient, ist offen gesagt ein Witz.“ Um die wenigen vorhandenen Ressourcen gebe es einen großen Kampf. Die AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan steht für eine rigorose islamisch-konservative Kulturpolitik.
Der Brain-Drain – ein Unglück
Der Brain-Drain, den die Türkei erlebe, sei ein „außerordentliches Unglück“ für das Land, sagt Migrationsforscher Murat Erdogan. Hauptgründe für den Weg ins Ausland sei die Wirtschaft, aber auch die menschenrechtliche Situation im Land und die korrumpierte Rechtsstaatlichkeit: Begonnen habe die Entwicklung mit den regierungskritischen Gezi-Protesten 2013, der gewaltvollen Reaktion des Staates darauf und dem Putschversuch 2016. Sie gelten allgemein als zentrale Ereignisse auf dem Weg zu einem autoritäreren türkischen Staat.
Bei Ärzten etwa macht sich das bemerkbar. Jeder Mediziner, der den Plan hegt, das Land zu verlassen, muss sich ein Dokument von der türkischen Ärztekammer TBB ausstellen lassen. Die Antragszahlen dazu sind laut der Kammer enorm gestiegen. 2019 wurden gut 1.000 dieser Dokumente beantragt, 2023 waren es dreimal so viele.
„Das Rechtssystem ist kaputt“, sagt auch die türkische Rechtsanwältin Güngör Baykan aus Ankara. Auch sie will nach Deutschland und lernt darum seit Oktober am Goethe-Institut die Sprache. Aus dem Institut heißt es, die Nachfrage nach Kursen steige ständig. Die Mutter der 32-jährigen Güngör ist Deutsche und lebt in Mülheim an der Ruhr, Güngör hat sie bereits viele Male besucht und zum Studium fünf Jahre in den Niederlanden gelebt. „Ich kenne die Lebensbedingungen in Deutschland und denke, dass es besser zu meinem Lebensentwurf passt.“ In der Türkei spüre sie einen starken religiösen Druck, vor allem auf sich als Frau. Güngör wartet seit Oktober 2023 auf einen Termin zur Visabeantragung.
Lange Visa-Wartezeiten – ein Kalkül?
In der Türkei hört man immer wieder den Vorwurf, Visa-Anträge würden grundlos abgelehnt, oder dass die langen Wartezeiten Kalkül seien. Aus deutschen Diplomatenkreisen in der Türkei hieß es, es gebe Probleme mit langen Wartezeiten. Hintergrund seien Rückstaus durch die Coronapandemie und personelle Engpässe in den Visastellen.
Einen noch größeren Anstieg als bei den Anträgen auf nationale Visa gibt es aber bei den Asylanträgen von türkischen Staatsbürgern, die in den vergangenen Jahren regelrecht explodiert sind: 2019 bewarben sich laut der Bundesregierung etwa 11.000 Menschen mit türkischem Pass auf Asyl in Deutschland. 2023 waren es rund 62.000 – das ist eine Steigerung um rund 400 Prozent. Nur von Syrern wurden 2023 mehr Anträge gestellt. Die meisten der Antragsteller aus der Türkei sind laut Pro Asyl Kurden. Vor allem die prokurdische Partei Dem und ihre Mitglieder sind in der Türkei großem Druck ausgesetzt. Viele ihrer auf Bürgermeisterämter gewählten Vertreter wurden etwa in den vergangenen Jahren durch regierungsnahe Vertreter ersetzt. Die große Mehrheit der Anträge wird jedoch abgelehnt, 2023 wurde nur in 13 Prozent der Fälle eine positive Asylentscheidung getroffen.
Vor 20 Jahren sei die Situation noch eine ganz andere gewesen, sagt Migrationsforscher Murat Erdogan. Die AKP galt als Hoffnungsträger für eine Liberalisierung des Landes. „Damals zogen noch Türken aus Europa zurück in die Türkei“. Musiker Mustafa will das auch für seine Zukunft nicht ausschließen. (dpa/mig) Aktuell Ausland
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Wenn man für sein eigenes Nicht-Vorankommen bzw. Scheitern stets andere dafür verantwortlich macht, dann wird man es weder in der Türkei, noch in Deutschland zu etwas bringen. In Deutschland mach das Großheer der dauerempörten Berufsechauffierer für alles was in ihrem Leben schlecht läuft auch andere dafür verantwortlich (Migranten und die Regierung). In der Türkei sind die jungen Menschen derzeit ebenfalls in großer Erwartungs- und Empfangshaltung gegenüber der Regierung. Es klingt toll, dass man in Deutschland 2.000 € Mindestlohn verdienen kann, das sind derzeit über 70.000 Türkische Lira = Sehr viel Geld. Dass jedoch diese 2.000 € brutto eigentlich nur 1.450 € netto sind, über die Hälfte des Nettolohnes für die Miete weggeht und von den 2.000 € brutto dann nach allen Abzügen kaum etwas übrig bleibt führt dann sehr schnell zum Wachwerden aus diesem Traum von einem schönen bequemen leben. Die unzufriedenen deutschen Pendants wählen dann weiterhin AfD und beziehen lieber Bürgergeld statt zu arbeiten, weil es sich nicht lohnt, die Migranten und die Regierung an allem Schuld sind.