Mehr Tempo
Scholz: Asylentscheidungen durch Künstliche Intelligenz in Vorbereitung
Sollen Asylentscheidungen künftig von Künstlicher Intelligenz entschieden werden, um Behörden zu entlasten? Für Bundeskanzler Scholz ist das vorstellbar. Er besuchte das Bundesamt für Migration. Die Mitarbeiter haben viel Gesprächsbedarf.
Dienstag, 09.07.2024, 10:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 09.07.2024, 8:28 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kann sich den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei Entscheidungen über Asylanträge vorstellen. KI könne dazu beitragen, „dass wir Routineentscheidungen schnell und trotzdem mit großer Qualität treffen können“, sagte Scholz am Montag nach einem Besuch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg. Solch ein KI-Einsatz werde schon „an vielen Stellen vorbereitet“. Tempo und Qualität der Asylentscheidungen seien zentral für deren Akzeptanz.
Scholz betonte zudem die Bedeutung der Digitalisierung für zügige Asylentscheidungen. Ebenfalls wichtig sei es, dass eine zwischen Bund und Ländern getroffene Verabredung umgesetzt wird, wonach Asylbeantragung und erste Anhörungen bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder stattfinden sollen. Bislang erfolgen diese oft erst nach der Verteilung der Geflüchteten auf die einzelnen Kommunen. Wenn die Verabredung flächendeckend umgesetzt sei, bedeute dies „eine Beschleunigung des Verfahrens“.
Der Präsident des Bundesamtes, Hans-Eckhard Sommer, sagte, die durchschnittliche Bearbeitungszeit aller Erstasylanträge liege derzeit bei 4,6 Monaten. Die Mitarbeiter der Behörde bearbeiteten die Anträge stets „individuell und auf die Menschen zugeschnitten“. Die aktuelle Asyllage sei entspannter als 2023. Man habe dieses Jahr bislang 21 Prozent weniger Asylerstanträge als im Vorjahreszeitraum. Gleichwohl seien die „Zugangszahlen nach wie vor hoch“.
Scholz: Tempo mit politischer Hilfe
Um mehr Tempo in Asylentscheidungen zu bringen, sagte Scholz politische Bemühungen zu, etwa zur Verbesserung der Rücknahme von Asylbewerbern im Zuge des sogenannten Dublin-Verfahrens auf europäischer Ebene. „Es muss so sein, dass wir da eine veränderte Praxis erreichen“, sagte Scholz in Nürnberg. Er sei mit seinem Kollegen in mehreren Ländern Europas im „Dauergespräch“.
Zuvor hatten Mitarbeiter des Bundesamtes dem Kanzler ihre Unzufriedenheit mit der bisherigen Praxis zum Ausdruck gebracht. Einige Länder, darunter Italien, akzeptieren derzeit keine oder nur eine geringe Zahl von Flüchtlingen, zu deren Aufnahme sie aber nach dem Dublin-Abkommen verpflichtet wären. Der Dublin-Verordnung zufolge ist immer nur ein EU-Staat für die Prüfung und Abwicklung von Asylverfahren zuständig – in der Regel jenes Land, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat.
Scholz: Mehr Tempo bei Gerichtsverfahren
Wichtig ist laut Scholz auch, dass Asylanträge auf Ebene der Bundesländer noch in den Erstaufnahmeeinrichtungen gestellt würden – vor der Verteilung auf die Kommunen. „Dass das flächendeckend so gelingt, ist ganz entscheidend“, sagte Scholz. Dies könne eine „dramatische Beschleunigung“ des Verfahrens zur Folge haben.
Er sprach sich auch für mehr Tempo bei den Verwaltungsgerichtsverfahren aus. In Rheinland-Pfalz sei die erste Instanz bei solchen Verfahren in weniger als sechs Monaten abgeschlossen. Der bundesweite Schnitt liege jedoch bei 20 Monaten. „Das Ziel muss sein, dass ganz Deutschland die Geschwindigkeit bei den Gerichtsverfahren hat, die in Rheinland-Pfalz jetzt Praxis ist.“
Weniger Asylanträge im laufenden Jahr
Die Zahl der Asylanträge ist in Deutschland im laufenden Jahr wieder rückläufig, allerdings auf hohem Niveau. Von Januar bis Juni wurden 121.000 Anträge auf Asyl gestellt – knapp 20 Prozent weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die meisten kamen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei.
Entschieden wurde in diesem Jahr bereits über 150.000 Anträge. Die Schutzquote lag bei 47 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 351.000 Erstanträge gestellt. Die Personalstärke des Bundesamtes von derzeit 8.000 Mitarbeitern ist auf 230.000 Anträge ausgelegt. Im vergangenen Haushalt wurde bereits eine temporäre Aufstockung um 1.000 Personen bewilligt. Die Rekordzahl an Anträgen stammt infolge des Bürgerkriegs in Syrien aus dem Jahr 2016 mit 745.000. (epd/dpa/mig) Leitartikel Politik
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Offener Brief
Lieber Olaf Scholz,
gut, dass ich immer wieder einmal deutlich daran erinnert und bestätigt werde, der SPD als Mitglied schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt zu haben.
Heute ist erneut so ein Tag.
Ich habe den Artikel zu Ihrem Besuch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gelesen. Es ist schon bedenklich und eines Bundeskanzlers, und erst recht eines sozialdemokratischen, unwürdig, mit welcher Nonchalance Sie aus Anlass Ihres Besuchs beim BAMF ohne Reflektion, offensichtlich aber auch ohne oder nur periphere Sachkenntnis Positionen vertreten oder unwidersprochen hinnehmen, die schlicht und ergreifend mit der inhaltlichen Realität nicht im Einklang stehen.
Würden Sie oder Ihre Berater auch nur einen Teil der BAMF-Bescheide lesen, wie ich dies viele hundert Mal in den vergangenen Jahren getan habe, würden Sie nicht die Behauptung des BAMF-Präsidenten unwidersprochen lassen, dass in diesen individuelle, auf den Einzelfall bezogene Entscheidungen getroffen werden, und schon gar nicht „auf die Menschen zugeschnittene“, ungeachtet dessen, welcher Wortwahl sich der Präsident einer Bundesbehörde sich hier bedient. Das trifft nicht zu.
Das Bundesamt führt – so die Wahrnehmung vieler juristischer und sonstiger hauptamtlicher Berater geflüchteter Menschen – zunächst einmal im Wesentlichen nur aus, was Politik vorgibt. Das gilt auch zu einem nicht unwesentlichen Teil für die Verwaltungsrechtsprechung.
Lange BAMF-Bescheide, die allzu oft 20 Seiten und mehr umfassen, beinhalten in der Regel Beschreibungen über Zu- und Umstände in sogenannten europäischen Zielländern, die der Realität in diesen nicht entsprechen. Begründungen der Bescheide bedienen sich sogar immer noch Umstandsbeschreibungen aus der Corona-Zeit, auf die zur Darstellung vermeintlich „positiver“ Umstände Bezug genommen wird, denen die dorthin Abgeschobenen in europäischen Ländern ausgesetzt sind.
In im Satzbausteinverfahren erstellte Bescheidbegründungen findet man allein deshalb immer wieder dieselben Ausführungen, zum Teil auf veralteterer Rechtsprechung basierend. Neuere Rechtsprechung, die eine andere (positive) Entscheidung rechtfertigen könnte, so vom EuGH, wird nicht aufgenommen oder adäquat berücksichtigt. Eine qualifizierte Auseinandersetzung mit dieser findet regelmäßig nicht statt.
Nicht nachzuvollziehen ist Ihre Aussage, KI könne dazu beitragen, Routineentscheidungen schnell und trotzdem mit großer Qualität treffen zu können.
Mangelte es Ihrer Meinung nach bisher den BAMF-Entscheidungen an diesen Merkmalen ? Wenn ja, dann teile ich diese Auffassung.
Wenn Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, aber der Auffassung sind, hier gehe es um „Routineentscheidungen“, bin ich an dem Punkt, den ich eingangs beschrieben habe: es ist gut, dass ich Ihrer Partei nicht mehr angehöre.
In Asylverfahren geht es um Menschen. Daran sei erinnert. Es geht um menschliche Schicksale, körperliche und psychische Verletzungen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, gebietet uns nicht nur unser Grundgesetz, sondern sollte Maßstab allen politischen, gesellschaftlichen und Verwaltungshandelns sein. Es ist unsere humanistische Pflicht, uns den besonders Schutzlosen anzunehmen, Menschen ohne Lobby.
Die Worthülse, Tempo und Qualität der Asylentscheidungen seien zentral für deren Akzeptanz, hilft schon seit Jahren nicht weiter. Und lassen sich mich anmerken: das gilt auch für Entscheidungen vieler Sozialämter, auf die in großer Not befindliche Hilfesuchende nur allzu oft monatelang warten müssen. Es gab Zeiten, in denen sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für deren Belange stark gemacht haben.
Der Einsatz von KI bei Entscheidungen in Asylverfahren könnte immerhin dazu führen, dass nicht nur politisch opportune Entscheidungen getroffen, sondern auch abweichende Meinungen mitberücksichtigt werden, die es sehr wohl von verschiedenen, ernstzunehmenden Seiten gibt, wie Kirchen, internationalen und vor allem auch national in den europäischen Ländern tätigen Hilfsorganisationen, Journalistinnen und Journalisten und von diesen getragenen Recherche-Netzwerken. Deren Positionen, Erkenntnisse und Erfahrungen müssten dann die KI aber auch unbeeinflusst verarbeiten dürfen/können.
Walter Wiegand
Flüchtlingsbeauftragter
im ev.-luth. Kirchenkreis Rendsburg-Eckernförde
Danke, Herr Wiegand, für diese inhaltlich, menschlich, politisch klaren Zeilen !