Schwache Begründung
Auswärtige Amt wertet Syrien-Urteil aus
Ein Urteil aus Nordrhein-Westfalen zur möglichen Abschiebung von Menschen nach Syrien beschäftigt auch Berlin. In seiner Urteilsbegründung spart das OVG nicht mit Kritik am Ministerium von Baerbock – offenbart aber Schwächen, Lücken und selektives Lesen.
Sonntag, 28.07.2024, 15:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 28.07.2024, 15:28 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die Bundesregierung hat noch keine Schlüsse aus einem viel beachteten Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG) gezogen, in dem es um eine mögliche Rückkehr von Syrern in ihr Herkunftsland geht. In seiner Urteilsbegründung übt das Gericht auch Kritik an der Einschätzung der Lage in dem arabischen Land durch das Auswärtige Amt. Man werde sich die schriftliche Urteilsbegründung „genau anschauen“, sagte eine Sprecherin des Ministeriums in Berlin.
Man werte zur Zeit die kürzlich vorgelegten Urteilsgründe aus, ergänzte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Grundsätzlich prüften das Bundesinnenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Entscheidungspraxis aufgrund der verfügbaren Quellen, zu denen auch Entscheidungen von Gerichten gehörten.
Das Urteil des OVG
Das OVG in Münster hatte in der vergangenen Woche ein Urteil zum Schutzstatus eines Syrers verkündet. Anfang der Woche veröffentlichte das Gericht dazu eine Pressemitteilung. Demnach besteht in Syrien für Zivilisten „keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ mehr. Am Donnerstag hat das Gericht dann die ausführliche schriftliche Urteilsbegründung ebenfalls veröffentlicht und nicht nur den Verfahrensbeteiligten zugestellt. Dieser Schritt ist ungewöhnlich.
In den 83 Seiten ist zu lesen, dass der Kläger Kurde sei. Bekannt war, dass er aus der Provinz Hasaka stammt, die von der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien beherrscht wird. Nach Angaben des OVG kann hier der syrische Staat weder Männer zum Militärdienst einziehen noch Strafen durchsetzen. Der Syrer hatte in seinem Verfahren angegeben, dass er von der kurdischen Armee vor seiner Flucht angesprochen worden war. Er sei gebeten worden, sich ihnen anzuschließen. Waffen müsse er nicht tragen, aber er könnte gemeinnützige Dinge tun. Er sei nicht unter Druck gesetzt worden, ist in der schriftlichen Urteilsbegründung nachzulesen. Gegenüber den Behörden in Deutschland sagte der Syrer aus, dass er keine andere Wahl gehabt habe, als sich entweder den kurdischen Kämpfern oder dem Assad-Regime anzuschließen oder zu flüchten.
Widerspruch durch das OVG
Dem widerspricht das OVG jetzt in seiner Urteilsbegründung. Der Kläger sei nicht unter Druck aus Syrien ausgereist. Er sei zuvor weder politisch verfolgt noch bedroht worden. Die von ihm befürchtete Einbeziehung zum Reservedienst in der syrischen Armee stand demnach nicht bevor. Und auch die kurdische Seite habe ihn nicht verfolgt. Bei einer jetzigen Rückkehr drohe keine Bedrohung durch den syrischen Staat.
Der Kläger war vor seiner Einreise nach Deutschland in Österreich zu einer Haftstrafe verurteilt worden, weil er an der Schleusung von Menschen aus der Türkei nach Europa beteiligt gewesen sein soll. Das Bamf lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen seiner vor der Einreise begangenen Straftaten ab. Auch die Voraussetzungen für subsidiären Schutz als Bürgerkriegsflüchtling sahen die Behörden nicht. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Auch wenn die Revision nicht zugelassen wurde, kann dagegen Beschwerde eingelegt werden.
Selektive Begründung des Gerichts
Kritik an der Entscheidung durch das OVG hatte Anfang der Woche zum Beispiel Pro Asyl geübt: „Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen entscheidet an der Realität in Syrien vorbei.“ Pro Asyl verweist auf einschlägige Quellen wie den Lagebericht des Auswärtigen Amtes.
Das OVG dagegen spart in seiner schriftlichen Urteilsbegründung nicht mit Kritik am Ministerium von Annalena Baerbock (Grüne). So schreiben die Richter, das Auswärtige Amt führe in seinem neuesten Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien aus, Rückkehrende würden vom Regime häufig als „Verräterinnen/innen“ deklariert und sähen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür (…) konfrontiert. Es sei aber nicht ersichtlich, auf welche konkrete Tatsachengrundlage das Auswärtige Amt diese ebenso pauschale wie weitreichende Aussage stütze, heißt es in der Urteilsbegründung.
Dabei zitiert das OVG aus Berichten von Amnesty International und Human Rights Watch von September und Oktober 2021. Darin sind 66 beziehungsweise 65 Schicksale von Menschen aufgeführt, die zwischen 2017 und 2021 nach Syrien zurückgekehrt waren. Keinen Eingang in das Urteil findet jedoch das Schicksal eines erst kürzlich abgeschobenen Syrers aus einer aktuellen Bamf-Information. Der Mann sei nach der Abschiebung im April 2024 der syrischen Militärgeheimdienst übergeben worden. Zwei Monate später sei seine Familie darüber informiert worden, dass er in Haft gestorben sei – wahrscheinlich an Folter. Allein seit Januar 2024 habe die Menschenrechtsorganisation SNHR „die Inhaftierung von mindestens 126 syrischen Geflüchteten“ erfasst, heißt es in dem Bamf-Bericht.
Ungeachtet dessen Fälle spricht das OVG in seiner Entscheidung von einer zu schmalen und nicht repräsentativen Tatsachengrundlage. Schließlich seien zwischen 2016 und 2021 mehr als 280.000 Menschen nach Syrien zurückgekehrt. Unerwähnt lässt das Gericht einen UN-Bericht, wonach die große Mehrheit derjenigen Menschen, die nach Syrien zurückgekehrt sind, wegen massiven Menschenrechtsverletzungen erneut fliehen.
Das OVG hatte für seine Entscheidung etwa Angaben der Europäischen Asylagentur (EUAA) zur Sicherheitslage von Zivilisten mit Daten einer Nichtregierungsorganisation (Armed Conflict Location and Event Data Projekt, kurz ACLED) zu gewaltsamen Konflikten und globalen Krisen verglichen. Fazit: „In der Provinz Hasaka bestehe keine Situation, in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären“, schreibt das OVG zur Begründung. Und weiter: „In der Provinz ereignen sich pro Tag ca. 3 bis 4 sicherheitsrelevante Vorfälle. Bei ca. 1,2 Mio. Einwohnern und auf einer Fläche von ca. 23.000 Quadratkilometern ist dies keine Gefahrendichte, bei der praktisch jede Zivilperson ernsthaft damit rechnen müsste, getötet oder verletzt zu werden.“
Wiederum unberücksichtigt lässt das Gericht hierbei eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus 2021, wonach eine „Mindestopferzahl“ nicht allein ausschlaggebend sein darf für die Gefahrenprognose. Zuvor hatte das Bundesverwaltungsgericht verlangt, dass eine „Mindestopferzahl“ von Zivilpersonen feststellbar sein muss, um von einer ernsthaften individuellen Bedrohung sprechen zu können. Dieser Rechtsprechung hatten die EU-Richter eine Absage erteilt. Sie forderten eine ausgewogene Einzelfallbetrachtung jenseits abstrakter Berechnungen zur „Gefahrendichte“. (dpa/mig) Aktuell Panorama
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