Fachkräfte-Visa
Wirtschaft fordert eine andere „Willkommenskultur“
Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll mehr qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland locken. Doch die Regeln zu kompliziert. Gefordert wird eine neue „Willkommenskultur“. Spitzenverbände der Wirtschaft sehen noch ein weiteres Problem: AfD.
Montag, 29.07.2024, 12:33 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 29.07.2024, 12:33 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Das Auswärtige Amt hat im ersten Halbjahr dieses Jahres mehr als 80.000 Visa für Menschen ausgestellt, die in Deutschland arbeiten wollen. Etwa die Hälfte von ihnen – mehr als 40.000 – sind Fachkräfte, wie die Deutsche Presse-Agentur aus dem Ministerium erfuhr. Zum Vergleich: Im Vorjahreszeitraum wurden rund 37.000 Visa an Fachkräfte erteilt. Im gesamten Jahr 2023 hatte das Auswärtige Amt den Angaben zufolge über 157.000 Visa zu Erwerbszwecken ausgestellt, davon gingen 79.000 Visa an Fachkräfte.
Die sogenannte Chancenkarte, die zum 1. Juni eingeführt wurde, hat noch keinen großen Einfluss auf die Zahl der Erwerbsmigranten. Bisher seien knapp 200 Visa nach dieser Rechtsgrundlage erteilt worden, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.
Chancenkarte steht noch am Anfang
Voraussetzung für die Chancenkarte ist eine im Erwerbsland staatlich anerkannte, mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein entsprechender Hochschulabschluss sowie Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch. Je nach Sprachniveau, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug bekommen Interessierte Punkte, die sie zum Erhalt der Chancenkarte berechtigen. Auch für Qualifikationen in Engpassberufen gibt es Punkte. Wer genügend Punkte hat, kann nach Deutschland kommen und hat dann ein Jahr lang Zeit, sich einen festen Job zu suchen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine einmalige Verlängerung um zwei Jahre möglich.
Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, übt Kritik an diesem System: „Eine Chancenkarte soll Menschen für ein Jahr die Chance geben, in Deutschland einen Job zu suchen. Die Voraussetzungen für die Chancenkarte sind allerdings zu komplex. Ich glaube nicht, dass man mit dieser Variante viele Fachkräfte zu uns locken kann“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Arbeiten ohne vorherige Anerkennungsverfahren
Deutschland hat seit 2020 ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, um den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte zu fördern. Im November 2023 trat der erste Teil einer von der Ampel-Koalition beschlossenen Reform dieses Gesetzes in Kraft. Er umfasste vor allem Erleichterungen bei der „Blauen Karte EU“ sowie für anerkannte Fachkräfte.
Seit März können Fachkräfte mit Abschluss und Berufserfahrung ohne vorheriges Anerkennungsverfahren einreisen und in Deutschland arbeiten. Sie müssen also noch keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen, aber ein Arbeitsplatzangebot mit einem Bruttojahresgehalt von mindestens 40.770 Euro – bei Tarifbindung des Arbeitgebers genügt eine Entlohnung gemäß Tarifvertrag.
Wirtschaft für eine andere „Willkommenskultur“
Die Wirtschaft begrüßt das neue Gesetz grundsätzlich. „Es ist aber zu kompliziert. In der praktischen Anwendung hinken wir hinterher“, meint DIHK-Präsident Adrian. Er spricht sich für eine andere „Willkommenskultur“ aus. „Die Botschaft muss lauten: Wir freuen uns, euch hier in Deutschland begrüßen zu können.“ Das fange bei der Visa-Erteilung an und höre bei der Bereitstellung von Wohnung und Kinderbetreuung auf. „Wir haben hier in vielen Bereichen Defizite.“
Info: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gibt Bürgerinnen und Bürgern aus EU-Staaten das Recht, ihren Arbeitsplatz innerhalb der Europäischen Union frei zu wählen. Wie viele Menschen aus Staaten, die nicht zur EU gehören, zum Arbeiten nach Deutschland kommen, hängt auch davon ab, wie aufwendig die Beantragung eines Visums für sie ist und wie lange Antragsteller bei einer deutschen Auslandsvertretung auf einen Termin warten müssen. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu, Visa für Fachkräfte würden vorrangig bearbeitet. Bis zum 1. Januar 2025 solle das nationale Visumverfahren umfassend digitalisiert sein.
Eine Ende Mai von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) vorgelegte Konjunkturumfrage ergab, dass über die Hälfte der Unternehmen den Fachkräftemangel aktuell als Geschäftsrisiko angeben – häufig genannte Risiken waren daneben hohe Energie- und Rohstoffpreise und die schwache Inlandsnachfrage.
Wirtschaft besorgt: „AfD-Umfragewerte besorgniserregend“
Auch Industriepräsident Siegfried Russwurm sieht Nachbesserungsbedarf bei der Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. „Die Aufgaben fangen bei den Botschaften und Konsulaten an. Jeder kennt das amerikanische Plakat „We want you!“ So müssen wir auch denken und handeln. Diese Willkommenskultur muss sich bis zur kommunalen Ausländerbehörde in der Stadt oder im Landratsamt durchziehen.“
Sorgen bereiten der Wirtschaft auch die anstehenden Landtagswahlen im Osten. „Die Umfragewerte der AfD besonders in Ostdeutschland sind besorgniserregend“, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. „Die deutsche Wirtschaft steht für ein weltoffenes, liberales Deutschland.“ Auch Industriepräsident Siegfried Russwurm sagte: „Wenn die AfD einen Ministerpräsidenten stellen würde, wäre das ganz schlecht für die Wirtschaft.“ Am 1. September werden die Landtage in Sachsen und Thüringen neu gewählt, am 22. September in Brandenburg. Umfragen zufolge könnte die rechtsextreme AfD stärkste Partei werden.
Industriepräsident: Was wäre dieses Land ohne Zuwanderer?
Russwurm weiter: „Die Sorgen sind nicht kleiner geworden, weil es den demokratischen Parteien offensichtlich nicht gelingt, Lösungen aufzuzeigen, die die Menschen wirklich ansprechen.“ Die wenigen inhaltlichen Aussagen, die es von der AfD gebe, seien durch die Bank untauglich für eine Stärkung der wirtschaftlichen Wachstumskräfte.
„Die helfen nicht, sondern sie schaden nur. Die offen und aktiv ausgelebte Fremdenfeindlichkeit der AfD verschärft die ohnehin existierenden Probleme des demografischen Wandels und Fachkräftemangels, von denen gerade Deutschland besonders betroffen ist“, sagte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. „Wer über Remigration redet, wer sagt ‚Ausländer raus‘, der soll sich bitte mal umschauen, auf die nächste Baustelle gucken, ins nächste Pflegeheim schauen, ins nächste Krankenhaus gehen, die nächste Kneipe besuchen: Was wäre dieses Land ohne Zuwanderer?“ (dpa/mig) Aktuell Wirtschaft
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