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Weltsicht

Hilfe, die Holländer kommen?!

Auch in Europa werden in zunehmendem Maße Menschen aufgrund der Folgen der Klimakrise ihre Heimat verlieren – warum reden wir eigentlich nicht darüber?

Von Dienstag, 30.07.2024, 12:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 30.07.2024, 12:00 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Nein, das wird jetzt kein Beitrag über die Klischees, die vor allem die Deutschen hinsichtlich ihrer niederländischen Nachbarn pflegen. Es soll also nicht um Fußball, ums Kiffen oder um Wohnwägen gehen, die gemütlich über deutsche Autobahnen ruckeln. Vielmehr geht es um den Klimawandel und seine (möglichen) Folgen, die wir in Europa noch nicht wahrhaben können oder wollen. Bei der Erwähnung des Begriffs „Klimaflüchtling“ denkt Otto-Normal-Europäer oder -Europäerin wohl vor allem an eine afrikanische oder südasiatische Familie, die mit ihrem letzten Hab und Gut durch eine überflutete oder verdorrte Landschaft zieht, um verzweifelt irgendwo Zuflucht zu finden. Das ist ein typisches Bild, welches die mediale Berichterstattung in Europa zum Thema Flucht und Migration im Zusammenhang mit der Klimakrise begleitet.

Aber zurück zu unseren Nachbarn im Westen: Mehr als die Hälfte der niederländischen Bevölkerung lebt unter dem Meeresspiegel. Das sind sage und schreibe 10 Millionen Menschen. Nun waren die Niederlande schon immer Meister darin, dem Meer Land abzutrotzen und die Materie Wasser zu kontrollieren. Aber man hat schmerzhafte Erfahrungen machen müssen; bei der schweren Sturmflut von 1953 etwa verloren über 1.800 Menschen ihr Leben und es entstand ein immenser Sachschaden. Seitdem haben die Niederlande ihren Sturmfluten- und Hochwasserschutz massiv ausgebaut, indem sie mit dem Schutzsystem Deltawerke Dämme erhöht und Sturmflutwehre gebaut haben. Zu diesen Maßnahmen gehörte auch der Bau des imposanten Oosterschelde-Sperrwerks.

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Diese Anlagen werden jedoch aufgrund des Klimawandels an ihre Grenzen kommen. Denn der Meeresspiegel steigt an und die Deltawerke sind für einen Meeresspiegelanstieg von 40 cm ausgelegt. Dies liegt jedoch deutlich unter einigen Prognosen, die bis zum Ende des 21. Jahrhunderts einen Anstieg des Ozeanpegels von bis 2 m oder mehr vorhersagen. Deshalb schlagen nicht wenige Expertinnen und Experten Alarm und betonen die Notwendigkeit, weiterer Maßnahmen zu ergreifen.

So gibt es die Idee, einen neuen Damm, circa 15 bis 20 Kilometer vor der heute bestehenden Küste, zu bauen. Mit einem Damm allein wäre es nicht getan. Es wäre auch notwendig Schleusenanlagen zu errichten, damit trotz Meeresspiegelanstiegs Schiffe weiterhin vom Meer in den Rhein einfahren können. Ebenso müssten Aufstiegshilfen für Fische und ökologische Ausgleichsflächen geschaffen werden. Die Kosten würden sich auf etwa 1 Milliarde Euro pro Jahr belaufen – wahrscheinlich aber deutlich mehr. Für ein reiches Land wie die Niederlande wäre das sicherlich verkraftbar. Allerdings gehen die Gedankenspiele schon deutlich weiter. Sollte sich abzeichnen, dass der Anstieg des Meeresspiegels in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts weit über die gängigen Prognosen hinausgehen wird, so wäre die Errichtung eines gesamteuropäischen Megadeichs von Skandinavien bis Frankreich notwendig. Der Bau eines solchen Bollwerks gegen die Auswirkungen der Klimakrise wären mit gigantischen finanziellen und politischen Herausforderungen verbunden. Mit anderen Worten: Ob ein solches Megabauwerk überhaupt errichtet werden könnte, ist trotz der sehr wahrscheinlichen Notwendigkeit ziemlich fraglich.

Lesetipp: „Klimamigration“: Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht, von Benjamin Schraven, erschienen am 3.7.23 im bei transcript, Taschenbuch, ‎176 Seiten, ISBN-13: ‎ 978-3837665475.

Das Ansteigen der Ozeanpegel ist nur eine Folge des Klimawandels, die Europa in zunehmendem Maße treffen. Von Norwegen bis zur iberischen Halbinsel kommt es zu immer mehr Starkregenereignissen und damit verbundenen Überschwemmungen. Vor allem in Südeuropa häufen sich die Dürren, einhergehend mit einer zum Teil massiven Wasserknappheit. Ebenso hat die Gletscherschmelze in den Alpen gravierende Folgen für die Wasserversorgung, die Stabilität der alpinen Ökosystemen oder den Tourismus. Auch bei diesen Klimafolgen ist es fraglich, inwieweit die Menschen sich anpassen können. Dies bedeutet nichts anderes, als dass auch viele Menschen in Europa aufgrund der Klimakrise ihre Heimat verlieren werden. Es wird an ihren Heimstätten einfach zu gefährlich oder aber diese Plätze verschwinden gar ganz. Erste Vorboten dieser Entwicklung sind die Umsiedlungen einzelner Küstenorte zum Beispiel in Frankreich oder dass vereinzelt Menschen im Ahrtal, welches vor drei Jahren von einem verheerenden Hochwassers verwüstet wurde, nicht in ihre Häuser zurückkehren können.

Nun werden Meeresspiegelanstieg, Dürren oder Überschwemmungen weder bereits in den nächsten wenigen Jahren noch über Nacht Millionen von Menschen obdachlos machen bzw. vertreiben. Sowohl ein von Vielen befürchtetes Szenario, wonach schon in naher Zukunft Abermillionen afrikanischer „Klimaflüchtlingen“ nach Europa strömen werden, als auch Szenarien, in dem etwa zig-tausende niederländische, norddeutsche oder dänische Familien in letzter Minute vor den heranrauschenden Nordseefluten über die A3 oder die A7 nach Bayern oder Baden-Württemberg fliehen werden, sind unsinnig. Steigende Unsicherheit und wirtschaftliche Einbußen sorgen in besonders vom Klimawandel betroffenen und bedrohten Gebieten aber sicherlich dafür, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Menschen aus diesen Regionen abwandern wollen und werden. Es werden in den nächsten Dekaden auch mehr und mehr geplante Umsiedlungen notwendig werden.

Leider wird in der europäischen Politik und den Gesellschaften über diese spezielle Herausforderung der Klimakrise noch kaum gesprochen. Damit sollten wir aber bald beginnen. Denn es wird notwendig sein, entsprechende Szenarien und Pläne für diese Herausforderung zu entwickeln und uns alle darauf „einzustimmen“. Die Covid19-Pandemie, der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die Eurokrise ab 2009 – all diese Ereignisse haben irgendwie den Eindruck erweckt, dass sich die Politik in Deutschland und anderen europäischen Ländern gerne von Schocks und ihren schwerwiegenden Auswirkungen überraschen lässt. Bei der Klimakrise und ihren (migrationsbezogenen) Folgen wäre dies fatal. Meinung

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