Vor 150 Jahren: Menschenzoo
Wissenschaftler fordern kritische Aufarbeitung der „Völkerschauen“ im Tierpark
Vor 150 Jahren begann im Hamburger Tierpark Hagenbeck die Geschichte der „Völkerschauen“. Eine kritische Aufarbeitung fehle immer noch, kritisiert Historiker Zimmerer. Dabei wirkten die Klischees von damals bis heute.
Von Evelyn Sander Donnerstag, 15.08.2024, 11:09 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 14.08.2024, 10:48 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Es gab diese Sehnsucht nach fernen Ländern, doch weite Reisen waren Ende des 19. Jahrhunderts teuer und unbequem. So kam das vermeintlich „Exotische“ nach Deutschland. „Menschen aus aller Welt wurden in Zoos, Zirkussen und auf Jahrmärkten ausgestellt“, sagt der Historiker Jürgen Zimmerer (59), der an der Universität Hamburg den Projektverbund „Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ leitet.
Was damals ein Millionenpublikum anzog, ist aus heutiger Sicht nicht vorstellbar: Menschen werden öffentlich auf oft klischeehafte Weise als primitive „exotische Wesen“ präsentiert. „Teilweise wurden sie gedemütigt“, erklärt Zimmerer. Besonders viele „Völkerschauen“ organisierte der Hamburger Zoodirektor Carl Hagenbeck (1844-1913). Vor 150 Jahren, im Jahr 1874, lief seine erste Schau mit einer Familie aus Lappland mit ihren Rentieren.
„Reduziert auf Nacktheit und Rückständigkeit.“
„Die Schauen lieferten vielen Europäern zum ersten Mal eine ungefähre Vorstellung davon, wie das Leben in anderen Kulturen, in fernen Teilen der Welt aussah“, erklärt Hagenbecks Tierpark heute. Insgesamt tourten etwa 400 Menschenschauen zwischen 1875 und 1930 durch europäische Großstädte. Mindestens 100 wurden von Hagenbeck veranstaltet. Laut der Münchner Historikerin Hilke Thode-Arora gingen hier die Besucherzahlen „für einzelne Sonn- und Feiertage oft in die Zehntausende. Bei der Sioux-Schau des Jahres 1910 überstiegen sie sogar eine Million.“
Das Besondere bei Hagenbeck war die vermeintlich „authentische“ Inszenierung der Menschen. Der Zoodirektor ließ Wissenschaftler die Authentizität bestätigen, klassifizierte die Schauen als Bildungsangebot und gab ihnen so einen seriösen Anstrich. Zimmerer: „Damit war es nicht nur ein Spektakel für bildungsferne Schichten, sondern sprach auch das Bürgertum an.“ Ausgestellt wurden Menschen, die die europäische Fantasie anregten, ein Großteil kam aus Asien und Afrika. „Sie mussten als besonders ‚primitiv‘ und naturnah gelten oder sich malerisch darstellen lassen“, sagt Zimmerer. „Sie wurden reduziert auf Nacktheit und Rückständigkeit.“
Als „unzivilisierte Wilde“ dargestellt
Komplexe Gesellschaften mit ihren Traditionen und Geschichten wurden als „unzivilisierte Wilde“ dargestellt. So wurden Angehörige des Volkes Kanak aus der Südsee als Kannibalen präsentiert, obwohl sie keine waren. Damit hätten die Schauen das rassistische Weltbild in den Köpfen der Europäer gestärkt und Klischees verbreitet. „Dies rechtfertigte die Invasionen fremder Regionen, den Raub von Rohstoffen und die Unterdrückung und Ausbeutung der dortigen Bevölkerung“, erklärt Zimmerer, der seit 34 Jahren zu Kolonialismus forscht.
In typischen Schauen gab es neben varietéartigen Aufführungen mit Tänzen oder Reitvorführungen eine ständige Ausstellung, in der das Publikum die Menschen beim scheinbar alltäglichen Leben beobachten konnte. Hagenbecks Pressestelle vergleicht die Arbeit der Darsteller mit Artisten im Zirkus: Sie hätten Verträge und Gagen bekommen und seien gut behandelt worden. „Carl Hagenbeck begegnete seinen Angestellten immer mit Respekt und Würde, eine Bestrafung mittels Peitsche, wie oft fälschlicherweise beschrieben ist, fand nicht statt“, heißt es vom Tierpark, der auf den Somalier Hersi Egay verweist. Er tourte mehr als zehn Jahre mit seiner Familie durch Europa, mit der Gage kaufte er Nähmaschinen und gründete in seiner Heimat eine Textilfirma.
Keine Aufarbeitung bis heute
Dagegen berichtet Zimmerer von Menschen, die sich gegen ihren Willen ausziehen mussten. Weil sie nicht geimpft waren, starb die komplette Inuit-Gruppe einer Hagenbeck-Schau an Pocken. „Eine kritische Aufarbeitung dieser dunklen Geschichte verweigert Hagenbeck bis heute“, kritisiert Zimmerer.
Natürlich sei die Familie Hagenbeck heute nicht für damals verantwortlich, aber schon dafür, wie sie heute damit umgehe. Angedachte Ausstellungen seien blockiert worden, eine Zusammenarbeit mit seinem Forschungsteam sei gescheitert, kritisiert Zimmerer. „Stattdessen wurden wir von Hagenbeck beschimpft.“
„Höchste Zeit, damit aufzuräumen“
Der Tierpark hält schriftlich dagegen: „Die Völkerschauen sind ein Bestandteil der Hagenbeck-Historie, der wir uns sehr wohl stellen.“ Verschiedene Autoren hätten im Hagenbeck-Archiv recherchiert und Studien veröffentlicht. Zimmerer meint aber: „Eine umfassende, proaktive Aufarbeitung ist das nicht.“
Tatsächlich lässt der Tierpark Fragen nach einer öffentlichen Entschuldigung, einer Gedenktafel im Zoo oder einem offenen Archiv unbeantwortet. Zimmerer aber hält die Aufarbeitung der Geschichte heute für besonders wichtig. Damals hätten sich die Klischees von „Fremden“ gefestigt. „Je bewusster wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen, desto besser können wir auch mit aktuellem Rassismus umgehen“, sagt Zimmerer. Vorurteile oder Angstvorstellungen etwa in Bezug auf Afrikaner seien jahrhundertealt. „Höchste Zeit, damit aufzuräumen.“ (epd/mig) Aktuell Panorama
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