Worum es geht.
Abschieben nach Syrien und Afghanistan?
Das Leben in Syrien und Afghanistan kann schrecklich sein. Doch so schrecklich, dass niemand dorthin abgeschoben werden kann? Der Angriff von Solingen hat der Diskussion neue Nahrung gegeben.
Von Martina Herzog, Johannes Sadek und Nabila Lalee Mittwoch, 28.08.2024, 10:17 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 28.08.2024, 9:25 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Anschlag in Solingen hat die Debatte um Sicherheit und Migration neu entfacht. Tatverdächtig ist ein 26-jähriger Syrer, der mutmaßlich aus fundamentalistischen Motiven handelte. Nun ruft unter anderem CDU-Chef Friedrich Merz nach Möglichkeiten, abgelehnte Asylbewerber wieder nach Syrien und Afghanistan abzuschieben – auch wenn im konkreten Fall eine Abschiebung nach Bulgarien scheiterte.
Was tut die Bundesregierung?
Schon nach dem tödlichen Messerangriff von Mannheim Ende Mai hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt, die Abschiebung von Schwerstkriminellen und terroristischen Gefährdern in diese Länder wieder zu ermöglichen. Gefährder sind Menschen, denen die Sicherheitsbehörden schwerste politisch motivierte Straftaten bis hin zum Terroranschlag zutrauen. Verurteilte Straftäter sollen nach früheren Angaben vor einer möglichen Abschiebung einen Großteil ihrer Strafe hierzulande abgesessen haben.
Überlegt wird in der Bundesregierung, ob Rückführungen über Nachbarstaaten möglich wären. Zumindest mit Usbekistan hat es schon Gespräche gegeben. Details will Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unter Verweis auf die Vertraulichkeit der Gespräche nicht nennen.
Woran hakt es?
Deutschland unterhält derzeit weder zu den Taliban-Machthabern in Kabul noch zur Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad diplomatische Beziehungen. Unter anderem darauf verweist das Auswärtige Amt. Wenn deutsche Behörden Menschen auch gegen deren Willen in ein anderes Land bringen, arbeiten sie mit dortigen Stellen zusammen. Das ist sowohl beim fundamentalistischen Taliban-Regime als auch beim Regime von Assad, dem Kriegsverbrechen zur Last gelegt werden, schwer vorstellbar – zudem man befürchtet, diesen Regierungen durch eine Zusammenarbeit Legitimität zu verleihen. Gerade die Grünen sind hier sehr skeptisch.
Wie ist die Rechtslage?
„Hier kommt es auf die Gefahreneinschätzung durch die zuständigen Behörden und Gerichte an“, sagt der Rechtswissenschaftler Winfried Kluth vom Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) der Deutschen Presse-Agentur. „Bei diesem Thema wird seit einiger Zeit geprüft, ob es ausreicht, wenn einzelne Landesteile (zumindest für bestimmte Personengruppen) als sicher eingestuft werden können.“
Hier gehen die Einschätzungen jedoch auseinander. Das Auswärtige Amt sieht insbesondere in Syrien nach wie vor große Sicherheitsprobleme. Die Rechtsprechung deutscher Gerichte ist nicht einheitlich. Für Aufsehen sorgte kürzlich ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, das feststellte: „Für Zivilpersonen besteht in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts mehr.“
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) argumentierte im RBB-Inforadio, in Einzelfällen seien Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan bereits möglich, wenn auch „nicht trivial“. Sie verteidigte die Lageberichte ihres Ministeriums als Entscheidungshilfe, die die Lage vor Ort anhand von Berichten und Fakten darstellten. „Daran kann man sich orientieren als Gericht, daran kann man sich orientieren als Landesregierung. Niemand muss sich daran orientieren an den Fakten, die wir beschreiben.“
Wie ist die Situation aktuell in Syrien?
In Syrien sind die großen Kämpfe aus den Jahren des Bürgerkriegs vorbei, eine Aussicht auf Frieden gibt es aber bis heute nicht. Der Konflikt begann 2011 mit Protesten gegen Präsident al-Assad. Dessen Regierung kontrolliert heute etwa zwei Drittel des faktisch geteilten Landes, unterstützt vom Iran und Russland. Die Türkei hält Gebiete im Norden besetzt. Den Nordosten kontrollieren arabische und kurdische Milizen, unterstützt von im Land stationierten US-Soldaten. Idlib im Nordwesten beherrscht die radikal-fundamentalistische HTS-Miliz. Mehr als 16 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Heute kann wohl kein Teil des Landes als sicher bezeichnet werden mit Blick auf eine Rückkehr von Flüchtlingen. Nach Einschätzung der EU und des UN-Flüchtlingshilfswerks ist die Lage in den Regierungsgebieten „nicht förderlich für eine sichere Rückkehr“. Demnach werden Flüchtlinge nach ihrer Rückkehr dort unter anderem für das Militär zwangsrekrutiert, willkürlich verhaftet, gefoltert oder sind körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt.
Auch andere de-facto-Behörden sowie bewaffnete Gruppen verüben dem UN-Menschenrechtsbüro zufolge schwere Menschenrechtsverletzungen an zurückkehrenden Flüchtlingen. Manche seien entführt worden oder verschwunden, berichtet das Büro, anderen seien Geld und Besitztümer abgenommen worden.
Auch im kurdisch verwalteten Nordosten gibt es Vorwürfe, dass die als SDF bekannten Streitkräfte Menschen etwa körperlich misshandeln, zu Unrecht festnehmen oder Kinder als Soldaten rekrutieren. In dieser Region wird auch ein Wiedererstarken der Terrormiliz IS befürchtet, zumal hier Zehntausende IS-Mitglieder und deren Familienangehörige in Gefängnissen und Lagern sitzen. Die Sorge ist auch, dass die Türkei hier eine neue Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG beginnen könnte, die sie als Terrororganisation einstuft.
Und in Afghanistan?
Seit August 2021 sind in Afghanistan wieder die Taliban an der Macht, die international vor allem wegen ihrer massiven Beschneidung von Frauenrechten in Kritik stehen. So dürfen Frauen und Mädchen keine Universitäten und Schulen ab der siebten Klasse mehr besuchen und nicht ohne männliche Begleitung reisen. Ein neues sogenanntes Tugend-Gesetz der Fundamentalisten schreibt Frauen außerdem vor, sich auf der Straße vollständig zu verhüllen und verbietet ihnen das öffentliche Singen oder Vorlesen.
Bisher sind in Städten wie Kabul noch Einwohnerinnen ohne männliche Begleitung und unverhülltem Gesicht auf der Straße zu sehen, Frauenrechtlerinnen fürchten jedoch in Zukunft weitere Einschränkungen für Frauen in dem Land. Männern schreibt das „Tugend“-Gesetz Bart- und Hosenlänge vor, Musik und Homosexualität sind ebenfalls verboten.
Insgesamt ist es seit der erneuten Machtübernahme der Taliban zu einem deutlichen Rückgang der bewaffneten Auseinandersetzungen in dem Land gekommen, auch wenn es nach wie vor zu Anschlägen kommt. Die meisten reklamiert die Terrormiliz IS für sich, die mit den Taliban trotz ideologischer Nähe verfeindet ist. Vor allem Angehörige der schiitischen Minderheit in dem Land geraten immer wieder ins Visier des IS. Die Terrormiliz betrachtet Schiiten als Abtrünnige des Islams und verachtet sie.
Kritiker bemängeln unter der Taliban-Herrschaft ein hartes Vorgehen gegen Menschenrechtler, Demonstranten oder Journalisten, denen laut Menschenrechtsorganisationen Verhaftung, Verschwinden oder Folter drohen. (dpa/mig) Aktuell Panorama
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