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Sheila Mysorekar, Neue Deutsche Organisationen, MiGAZIN, Migration, Rassismus, Integration
Sheila Mysorekar, Vorsitzender der Neuen Deutschen Organisationen © Zeichnung: MiG

Nach Solingen

Brandstiftende Biedermänner

Soso, Friedrich Merz möchte den Notstand ausrufen? Die Grenzen sperren für Flüchtende aus Syrien und Afghanistan? Und denkt ansonsten ergebnisoffen über Passentzug und andere illegale Maßnahmen nach?

Von Donnerstag, 29.08.2024, 10:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.08.2024, 10:27 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Es ist so bitter: nach einem mehrfachen Mord auf einem Fest der Vielfalt, also nach einem Attentat, das sich gegen eine offene Gesellschaft richtet, überbieten sich deutsche Politiker gegenseitig in Absichtserklärungen für Maßnahmen, die menschenrechtswidrig und obendrein illegal sind. Anstatt ein lautes „Jetzt erst recht!“, anstatt eine gemeinsame, parteiübergreifende Bejahung der freien, vielfältigen Gesellschaft hören wir das Gegenteil: Abschottung, Aussetzen von Asylrecht – das in unserem Grundgesetz festgeschrieben ist -, Forderungen nach Passentzug, nach mehr Kontrollen von „Verdächtigen“. Die man nach ihrem Äußeren kategorisiert, nehme ich an. Hautfarbe, Haarfarbe, daran erkennt man die Gesinnung, Sie wissen schon.

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Es ist bitter, weil hier exemplarisch vorgeführt wird, wie Rassismus funktioniert. Ein Islamist ersticht mehrere Menschen. Die AfD freut sich, weil ihnen dieses Attentat vor den Landtagswahlen wie gerufen kommt; ihre Rufe nach Sicherheit und Ordnung, ihre ominösen Warnungen vor „Messermännern“ klingen jetzt plausibel. Die AfD – wie alle Rechtsextreme – betrachtet sowieso alle Geflüchteten, alle Araber, alle Ausländer als gefährlich. Ein Syrer, der mordet, steht für alle Syrer: so verknüpfen sie ihre Vision von einem homogen „weißen“ Deutschland mit dem Narrativ von Sicherheit. Das ist nichts Neues; so denken Rechtsextreme halt. Übrigens auch Islamisten, die ebenso gegen eine offene, vielfältige Gesellschaft sind.

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Nun sehen wir aber am öffentlichen Diskurs, wie dieses rassistische Narrativ von absolut allen Parteien aufgegriffen wird. Ein gegenseitiges Überbieten an Forderungen, die Menschenrechte zu suspendieren, Geflüchtete zu sanktionieren, und natürlich abschieben, abschieben, abschieben. Allen voran Friedrich Merz, der direkt nach dem Attentat forderte, kein Asyl mehr für Schutzsuchende aus Syrien und Afghanistan zu gewähren; wohl wissend, dass dies gesetzwidrig wäre. Man hat den Eindruck, dass er nur auf einen günstigen Moment gewartet hat, um all diese Maximalforderungen zu platzieren, genau wie die AfD auch. Es geht einfach darum, das politische Zentrum weiter nach rechts zu rücken; auch der traurigste Anlass wird dafür instrumentalisiert.

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„Wir sehen, wie der demokratische Konsens in Nullkommanichts über Bord geworfen wird.“

Für mich, für uns, für Deutsche aus internationalen Familien, ist dies beängstigend. Wir sehen, wie der demokratische Konsens in Nullkommanichts über Bord geworfen wird. Von internationalen Gesetzen bis zu unserem gesellschaftlichen Miteinander – alles wird zur Disposition gestellt, und zwar im Sinne der extremen Rechten.

Man könnte über sinnvolle Maßnahmen gegen Islamismus und Radikalisierung im Internet diskutieren. Aber nein, stattdessen geht es um Repressionen gegen Menschen, die nichts, aber auch gar nichts mit diesem Mehrfachmord zu tun haben, nämlich gegen Menschen, die ihrerseits vor Islamisten geflohen sind. Bezeichnend ist, dass der Attentäter von Solingen auch einen Geflüchteten aus dem Iran attackierte.

„Genau an dieser Stelle zeigt sich der Rassismus: Es wird nicht mehr differenziert.“

Genau an dieser Stelle zeigt sich der Rassismus: Es wird nicht mehr differenziert, sondern bestimmten Gruppen werden pauschal negative Eigenschaften und damit eine inhärente Gefährlichkeit zugeschrieben, weil das halt ihre „Mentalität“ sei, also der logische Zusammenhang „Araber – Aggression – Messer“. Jede:r Deutsche würde sich zu Recht dagegen verwahren, dass „deutsche Mentalität“ automatisch mit Kriegslust und Gaskammern verknüpft würde. Gegenüber Minderheiten hingegen ist es völlig normal, so zu argumentieren. Diese Zuschreibungen sind nichts anderes als Rassismus.

Regierung und Abgeordnete repräsentieren jedoch nicht nur weiße, christliche Deutsche. Auch wir sind Wähler:innen, auch wir sind Bürger:innen dieses Landes, und wir sind viele. Rund ein Drittel aller Menschen hierzulande hat eine internationale Geschichte. Wir sehen, dass unsere schiere Existenz als Gefahr deklariert wird: Was sonst ist ein „nationaler Notstand“ wegen „illegaler Migration“? Auf der Straße, in Internetforen, an den Stammtischen wird nicht unterschieden, ob ich hier geboren bin und einen deutschen Pass habe oder vorgestern ins Land eingereist bin und um Asyl ersuche; alle Einwander:innen werden pauschal als unerwünscht deklariert, Migration als „massives ungelöstes Problem“. Wer das tut, setzt wissentlich unsere Sicherheit aufs Spiel.

All das im unmittelbaren Vorfeld der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo zum ersten Mal seit Ende des Faschismus 1945 eine rechtsradikale, völkische Partei als stärkste Kraft ins Landesparlament einziehen könnte.

DaMOst, der Dachverband der Migrant:innenorganisationen in Ostdeutschland, hat ein Ende rassistischer Debatten gefordert, „die nicht nur die gesellschaftliche Spaltung verschlimmern, sondern auch den Nährboden für eine weitere Eskalation bilden.“

„Die rechtspopulistische Rhetorik von Parteien der Mitte gefährdet unsere Sicherheit.“

Genau das macht uns Angst. Die rechtspopulistische Rhetorik von Parteien der Mitte gefährdet unsere Sicherheit: Mit jeder Markierung von Einwander:innen als fremd, gefährlich, nicht dazugehörig werden rechtsextreme Kräfte ermutigt, gewaltsam gegen uns vorzugehen. Und wir wissen, wie das ausgeht – mit Attentaten wie in Halle und Hanau.

Es gäbe genug Möglichkeiten, die demokratischen Kräfte und die Zivilgesellschaft im Land zu stärken; zum Beispiel das Demokratiefördergesetz endlich zu verabschieden.

Bei den großen antifaschistischen Demonstrationen Anfang des Jahres forderten Millionen von Bürger:innen, die AfD zu verbieten. Auch die „neuen deutschen organisationen“ (NDO), als Netzwerk von rund 200 postmigrantischen Organisationen, schließen sich dieser Forderung an. Der Verfassungsschutz hat einige AfD-Landesverbände als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft – Landesverbände, die dennoch zur Wahl stehen, als wäre dies völlig egal.

„Die Regierung scheint sich taub zu stellen und versucht nicht einmal, die Rechtsextremen zu stoppen.“

Die Regierung scheint sich taub zu stellen und versucht nicht einmal, die Rechtsextremen zu stoppen. Für uns migrantische Menschen, Schwarze Deutsche, Sinti und Roma, für alle, die nicht in die Norm passen, ist dies eine bittere, sehr bittere Erkenntnis. Erst recht für diejenigen von uns, die in Bundesländern leben, wo die AfD stärkste Kraft ist.

Hoffnung macht die Reaktion in Solingen, wo in den Tagen nach der Tat viele Menschen zusammenkamen, um Geflüchtetenunterkünfte vor marodierenden Rechtsradikalen zu schützen und sich weiterhin für eine weltoffene Gesellschaft stark zu machen. In vieler Hinsicht sind die Bürger:innen weiter als ihre Repräsentant:innen – sie leben in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Und die Zukunft ist vielfältig. Meinung

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  1. Wolfgang Müller sagt:

    ………Hilflos in der Zirkuskuppel — die Bundesschlaumeier pflegen den Populismus. Es ist zum verzweifeln.