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Wahlrune (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

Landtagswahlen

30 Prozent für gesichert Rechtsextrem in Thüringen und Sachsen

Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ergeben ein unübersichtliches Bild. Das Regieren in den nächsten Jahren dürfte enorm kompliziert werden. Nur eins ist sicher: Die Republik rückt weiter nach rechts. Menschenrechtler und Juden sind besorgt.

Sonntag, 01.09.2024, 21:15 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.09.2024, 21:15 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Wähler in Thüringen und Sachsen haben der Politik eine schwierige Aufgabe aufgetischt – vielleicht sogar ein nahezu unlösbares Puzzle. Erstmals ist die AfD nach einer Landtagswahl stärkste Kraft. In Thüringen schaffte die Rechtsaußenpartei das mit großem Abstand vor der CDU. In Sachsen lieferte sie sich bis in den Wahlabend hinein ein Fotofinish mit der CDU. Doch wird die AfD wohl mangels Partnern nirgends regieren. Anders der Senkrechtstarter des Jahres: Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) könnte dank zweistelliger Ergebnisse in beiden Ländern mitmischen – vorausgesetzt, es finden sich völlig neue Konstellationen zusammen.

Die thüringische BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf schien von den ersten Prognosen für ihre Partei von 14,5 bis 16 Prozent der Stimmen denn auch überwältigt. „Ich habe Gänsehaut, ich geb’s zu“, sagte die ehemalige Linken-Politikerin und Bürgermeisterin von Eisenach bei der BSW-Wahlparty mit Blick auf den Erfurter Dom. Sie sprach von einem historischen Moment. Mit Parteigründerin Sahra Wagenknecht lag sie sich in den Armen, immer wieder brandete Jubel auf. Es handele sich um einen „riesigen Vertrauensvorschuss“, sagte Wolf. „Wir versprechen diesem Land: Wir lassen euch nicht allein.“

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AfD sieht „historischen Sieg“ in Thüringen

Die AfD, die nach Hochrechnungen in Thüringen 31,2 bis 33,1 Prozent der Stimmen erhielt und damit weit vor der CDU lag, ließ die Öffentlichkeit an Jubelszenen nicht teilhaben – sie hatte kurzfristig alle Journalisten von der Wahlparty ausgeschlossen. Spitzenkandidat Björn Höcke sprach aber beim Verlassen der Party von einem „historischen Sieg“, bevor er in den Landtag abfuhr. Aus dem für die Medien geschlossenen Partylokal drangen entfernt Applaus sowie Sprechchöre: „Höcke, Höcke“ und „Jetzt geht’s los“.

Forderungen formulierte derweil AfD-Bundeschefin Alice Weidel im Fernsehen: Unter normalen Umständen sei ja die stärkste Partei mit Sondieren am Zuge – alles andere wäre „Ignorieren des Wählerwillens“, sagte Weidel in der ARD. Nur: Die AfD ist eben weit von einer eigenen Mehrheit entfernt – in Thüringen wie auch in Sachsen, wo sie nach ersten Hochrechnungen mit 30,4 bis 31,4 Prozent hauchdünn hinter der CDU von Ministerpräsident Michael Kretschmer lag, der auf 31,6 bis 31,7 Prozent kam.

In Sachsen dürfte Kretschmer als Amtsinhaber auf die Suche nach Koalitionspartnern gehen und hat Chancen, im Amt zu bleiben. In Thüringen muss Regierungschef Bodo Ramelow nach einem drastischen Absturz seiner Linken das Heft wohl an den Zweitplatzierten abgeben, CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt. Wer in beiden Ländern mit wem regieren wird, dürfte sich erst in den nächsten Wochen abzeichnen. Klar schien am Sonntagabend nur, dass die AfD dabei vermutlich nichts zu melden haben würde. André Wendt, Landtagsvizepräsident in Sachsen, räumte ein, dass er mit einem besseren Ergebnis gerechnet hätte. „Mir ist bewusst, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Er persönlich sei „glücklich, aber nicht überglücklich“.

Ängste vor Verbrechen und Migration

Was treibt die Wähler an? Nach an diesem Wochenende veröffentlichen Zahlen des ARD-Deutschlandtrends machen sich in Sachsen und Thüringen 77 Prozent der Menschen große Sorgen, dass die Kriminalität künftig massiv zunimmt. 67 Prozent fürchten, dass zu viele Fremde ins Land kommen, 55 Prozent, dass die ihren Lebensstandard nicht halten können. Nur 39 Prozent in Sachsen schätzten in der Umfrage für die ARD die wirtschaftliche Lage als gut ein, in Thüringen gar nur 30 Prozent.

Zudem bricht sich 34 Jahre nach der Vereinigung der Frust Bahn. In der ARD-Umfrage sagten jeweils drei von vier Befragten in beiden Ländern, dass Politik und Wirtschaft immer noch zu stark von Westdeutschen bestimmt seien und dass Ostdeutsche an vielen Stellen immer noch „Bürger zweiter Klasse“ seien. Alles zusammen eine gesellschaftlich explosive Gemengelage, die sich in den Wahlergebnissen spiegelt.

Sorge um Demokratie

Ängste gibt es aber auch mit ganz anderen Vorzeichen: Die Amadeu Antonio Stiftung etwa warnte nach Bekanntwerden der ersten Hochrechnungen vor einer Normalisierung des Rechtsextremismus. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass rechtsextreme Parteien in Ostdeutschland erheblichen politischen Einfluss gewonnen haben, erklärte der Geschäftsführer der Stiftung, Timo Reinfrank, am Abend in Berlin. Die Stiftung betone dabei zugleich „die Dringlichkeit, zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken und demokratische Werte zu verteidigen“.

Reinfrank erklärte, es dürfe nicht zugelassen werden, „dass rechtsextreme Parteien wie die AfD in Thüringen und Sachsen weiter an Einfluss gewinnen“. Die Wahlergebnisse seien alarmierend und gefährdeten die Demokratie in Deutschland. Es sei unerlässlich, dass die Bundesregierung „zivilgesellschaftliches Engagement in Ostdeutschland weiterhin unterstützt und absichert“.

Knobloch: Deutschland weniger lebenswert

Der Geschäftsführer des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, erklärte, die Zustimmung für die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sei „für Überlebende der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager zutiefst deprimierend und ein Schlag gegen das Vertrauen, das sie Deutschland mittlerweile wieder entgegenbringen“. Dass gerade in Deutschland so viele Menschen einer Partei vertrauen, „die mehr als braun gesprenkelt ist und sogar von anderen rechtsextremen Parteien in Europa als zu vergangenheitsbehaftet ausgegrenzt wird“, sei für die Überlebenden bisher unvorstellbar gewesen. Vor der Mehrheit der Demokraten stehe nun die wichtige Aufgabe, die Demokratie zu verteidigen.

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, äußert sich schockiert über die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Deutschland drohe ein anderes Land zu werden: „instabiler, kälter und ärmer, weniger sicher, weniger lebenswert“, sagt Knobloch am Sonntagabend in München.

Zu dem Ergebnis vom Sonntag sagte die 91 Jahre alte Holocaust-Überlebende Knobloch, die von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland war: „Niemand möge jetzt noch von ‚Protest‘ sprechen oder andere Ausflüchte suchen. Die zahlreichen Wähler haben ihre Entscheidung bewusst getroffen, viele wollten die Extremisten an den Rändern in Verantwortung bringen.“ Die politischen Folgen dieser Wahl bekomme das ganze Land zu spüren. (dpa/epd/mig) Gesellschaft Leitartikel

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