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Plenarsaal des Sächsischen Landtags © Oliver Killig

„Deutschland taumelt“

Zivilgesellschaft warnt vor Folgen des Rechtsrucks

Platz eins in Thüringen, Rang zwei in Sachsen. Die AfD feiert nach den Landtagswahlen zwei Erfolge. Nach dem guten Abschneiden schwanken die Reaktionen in der Zivilgesellschaft zwischen Entsetzen und Zukunftsangst. Die Bundesregierung lädt zu einem Spitzentreffen zur Asylpolitik ein.

Montag, 02.09.2024, 16:51 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.09.2024, 17:34 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen haben sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen entsetzt über das gute Abschneiden der AfD geäußert. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, warnt nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen vor der AfD – und auch dem BSW. „Deutschland taumelt. Können wir uns von diesem Treffer erholen?“, schreibt Schuster in einem Gastkommentar beim Boulevardblatt „Bild“. „Ungeschminkte Wahrheiten – Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit – sind gefragt, keine populistischen Scheinantworten radikaler Parteien.“

Den Wahlerfolg der AfD bezeichnet Schuster als „Wirkungstreffer historischer Dimension“. Immer mehr Menschen wählten die AfD aus politischer Überzeugung. In Thüringen wurde die Partei nach dem vorläufigen Wahlergebnis mit 32,8 Prozent erstmals in ihrer Geschichte stärkste Kraft bei einer Landtagswahl. In Sachsen landete sie mit 30,6 Prozent auf Platz 2. Die Partei wird in beiden Ländern als gesichert rechtsextremistisch eingestuft.

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Auch die noch neue Wagenknecht-Partei sieht Schuster kritisch. „Ein populistisches BSW lässt noch vieles unbekannt, aber das was wir von dieser neuen Partei und seinem Spitzenpersonal wissen, lässt nichts Gutes erahnen“, schreibt er. „Es ist an der Politik der Mitte, Klartext zu sprechen – Tacheles. Kontern wir endlich.“ Das BSW erhielt in Sachsen 11,8 Prozent, in Thüringen 15,8 Prozent.

Zentralrat der Sinti und Roma: AfD erzeugt Angst

Auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zeigt sich fassungslos. „Für die meisten Wähler war die Wahl der AfD eine bewusste Entscheidung, die Renaissance von völkischem Denken wieder salonfähig zu machen. Funktionäre der Partei wie Björn Höcke stehen für eine menschenverachtende Ideologie und kokettieren immer wieder mit den Symbolen und Parolen des Nazi-Regimes“, erklärte Zentralrat-Vorsitzender Romani Rose am Montag.

Er verwies darauf, dass die AfD auch gesellschaftlich ein Klima der Angst erzeuge: „Deutschland hat zwei Weltkriege verursacht und die Nazis haben in Europa unvorstellbare Menschheitsverbrechen verübt. Die Gewalt gegen Politiker in den letzten Monaten oder die Drohungen gegen den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald erinnern uns an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.“

Amnesty kritisiert „menschenrechtlichen Unterbietungswettbewerb“

Amnesty International warnte die deutsche Politik vor weiterem Populismus. In Thüringen und Sachsen hätten sich die Parteien im Wahlkampf von menschenfeindlichen Forderungen gegen Ausländer und Minderheiten treiben lassen, kritisierte die Generalsekretärin von Amnesty Deutschland, Julia Duchrow, am Montag in Berlin. Dieser „menschenrechtliche Unterbietungswettbewerb“ müsse jetzt ein Ende haben: „Die kommenden Landesregierungen haben den Auftrag, die Rechte aller zu schützen – ohne dabei zu diskriminieren. Rassismus, Queerfeindlichkeit und Hass stehen dem diametral entgegen.“

Die Wahlkämpfe in den beiden Ländern seien von Forderungen nach Einschränkungen des Asylrechts, rassistischen Parolen und queerfeindlichen Attacken geprägt gewesen. In der Regierungsbildung müssten sich Parteien jetzt klar zu einer menschenrechtsbasierten Landespolitik bekennen, forderte Duchrow. Zivilgesellschaftliche Initiativen bräuchten Rückendeckung, egal ob sie für Betroffene von Rassismus und Gewalt arbeiten oder für die Bildung von Kindern. „Wenn die Vision einer Gesellschaft, an der alle gleichberechtigt teilhaben können, infrage gestellt wird, müssen wir uns einmischen“, sagte die Amnesty Generalsekretärin.

Türkische Gemeinde stellt Heimat und Zukunft infrage

Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) ist nach eigenen Worten entsetzt über die Wahlerfolge der AfD in Sachsen und Thüringen. „Für uns, die ‚neuen‘ Deutschen mit Migrationsgeschichte, sind diese Ergebnisse erschütternd und beängstigend, denn sie stellen unsere Heimat und unsere Zukunft hier infrage“, erklärte die Bundesvorsitzende des Dachverbands, Aslıhan Yeşilkaya-Yurtbay, am Montag in Berlin. Viele Menschen ihrer Generation planten bereits, Deutschland zu verlassen.

Die aktuelle Situation erinnere stark an die 1990er Jahre, kritisierte sie. An Politiker aller Parteien appellierte sie, „hören Sie auf damit, gesellschaftliche Probleme zu migrantisieren und arbeiten Sie endlich gemeinsam an Lösungen. Aber vor allem: Machen Sie keinen Wahlkampf, mit dem Sie die Positionen der AfD bestätigen“.

Flüchtlingsrat: Geflüchteten drohen mehr Anfeindungen

Der sächsische Flüchtlingsrat sorgt sich nach der Landtagswahl um die Situation von Geflüchteten im Freistaat. Mit der Stärkung rechtsextremer Positionen auf parlamentarischer Ebene könnte „eine weitere Zunahme von Diskriminierung und Übergriffen im Alltag“ verbunden sein, teilte der Flüchtlingsrat am Montag in Leipzig mit. Bereits jetzt würden bundesweit die meisten Attacken auf Schutzsuchende in Sachsen stattfinden.

Obwohl im ersten Halbjahr 2024 nur halb so viele Flüchtlinge nach Sachsen gekommen seien wie im Vorjahr, sei in der Politik immer wieder von Überforderung gesprochen worden, erklärte Vereinssprecher Dave Schmidtke. „Wer hier immer wieder Panik verbreitet, beschleunigt die diffuse unbegründete Angst vor Geflüchteten.“ Im Wahlkampf seien kaum positive Perspektiven zum Thema Migration zu hören gewesen.

Der Sprecher des sächsischen Flüchtlingsrates, Dave Schmidtke, erklärte: „Diskussionen, die vor einigen Jahren noch als rassistische Propaganda abgetan worden wären, sind inzwischen salonfähig.“ Das Kopieren rechtsextremer Inhalte von demokratischen Parteien habe den rechten Rand gestärkt und die Brandmauer bröckeln lassen.

Spitzengespräch zur Asylpolitik am Dienstag

Am Dienstag kommen Vertreter von Bundesregierung, Bundesländern und Union als größter Oppositionsfraktion im Bundestag zu Gesprächen zusammen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) habe für den Nachmittag zu dem Treffen in ihr Haus eingeladen, sagte ein Sprecher am Montag in Berlin. Geplant sei ein „vertrauliches Arbeitsgespräch“, hieß es.

Erwartungen an das Treffen versuchte die Bundesregierung am Montag zu dämpfen. „Ich würde eher dafür plädieren, jetzt erst mal abzuwarten und nicht im Vorhinein hier große Erwartungen zu formulieren“, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann in Berlin.

Grundlage für das Gespräch soll das in der vergangenen Woche vorgestellte „Sicherheitspaket“ der Bundesregierung sein, sagte der Sprecher. Die Ampel-Koalition hat darin ihre Pläne für Rechtsänderungen als Konsequenz aus dem islamistisch motivierten Anschlag in Solingen festgeschrieben. Vorgesehen ist unter anderem, Asylbewerbern, für deren Asylverfahren ein anderer EU-Staat zuständig ist, künftig keine Sozialleistungen mehr zu zahlen.

CDU-Chef Friedrich Merz hatte nach dem Anschlag in Solingen eine grundlegende Änderung der Migrationspolitik gefordert. Er fordert Zurückweisungen auch von Asylsuchenden an der Grenze, was schwer mit europarechtlichen Regelungen und dem Grundgesetz vereinbar ist. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte mehrfach betont, dass er eine Grundgesetzänderung ausschließt, sich aber offen für Gespräche mit der Union gezeigt. (epd/dpa/mig) Gesellschaft Leitartikel

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