Nordrhein-Westfalen
Strengere Abschiebe-Regeln für Behörden nach Solingen
Der ausreisepflichtige mutmaßliche Solinger Attentäter konnte in seiner Notunterkunft scheinbar ein und aus gehen und sich so der Abschiebung entziehen. Es gibt neue Fragen und erste Konsequenzen.
Von Bettina Grönewald und Dorothea Hülsmeier Donnerstag, 05.09.2024, 11:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 05.09.2024, 11:12 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Ein neuer Sachstandsbericht der nordrhein-westfälischen Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) zum tödlichen Messer-Angriff von Solingen hat bei der Opposition weitere kritische Fragen zu Behördenversagen ausgelöst. Fast zwei Wochen nach dem Anschlag mit drei Toten wurde bekannt, dass der tatverdächtige ausreisepflichtige Syrer im April 2023 bereits eine Woche lang nicht in der ihm zugewiesenen Notunterkunft in Paderborn anwesend war.
„Diese Abwesenheit wurde der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) Bielefeld vonseiten der Einrichtungsleitung nicht gemeldet“, berichtete Paul im Integrationsausschuss des Düsseldorfer Landtags. In einem Standard-Fragebogen der ZAB habe die Paderborner Notunterkunft bejaht, dass der ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber regelmäßig in der Einrichtung sei.
SPD wirft Frage nach Organisationsverantwortung der Ministerin auf
Die Vizevorsitzende der SPD-Fraktion, Lisa-Kristin Kapteinat, äußerte sich entsetzt über den behördlichen Umgang mit dem Verfahren: „Das ist ein essenzieller Fehler, der möglicherweise verantwortlich ist dafür, dass diese Abschiebung gescheitert ist“ Sie warf erneut die Frage nach der Organisationsverantwortung der Fluchtministerin auf, die wegen der gescheiterten Abschiebung unter starkem politischen Rechtfertigungsdruck steht.
Die Grünen-Abgeordnete Gönül Eğlence warf der Opposition vor, es gehe ihr gar nicht um die Sache, sondern darum, die Ministerin zu diskreditieren. Im Übrigen sei festzuhalten, dass Terror nicht mit Abschiebepolitik zu bekämpfen sei – wenngleich es richtig sei, auch migrationspolitische Fragen aufzuwerfen und entsprechende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
CDU: „Kein Verantwortungs-Pingpong spielen“
Der CDU-Abgeordnete Dietmar Panske warnte davor, nun „Verantwortungs-Pingpong“ zu spielen. Vielmehr gehe es darum, kurzfristig Verbesserungen zu erzielen. Insbesondere den völlig überlasteten Kommunen dürfe nicht der Schwarze Peter zugeschoben werden.
Laut Bericht der Bezirksregierung Detmold sollte am 5. Juni 2023 um 2.30 Uhr neben dem tatverdächtigen Issa Al H. ein weiterer Syrer aus der Unterkunft in Paderborn abgeholt und abgeschoben werden. Beide Personen seien in der Nacht des Zugriffs nicht angetroffen worden. Issa Al H. war aber demnach tagsüber beim Mittagessen in der Unterkunft anwesend.
FDP-Vizefraktionschef Marc Lürbke wunderte sich, wieso sich die Beamten nach dem missglückten Zugriff und die Mitarbeiter der Einrichtung mit solchen Zuständen zufriedengaben: „Das kann man ja eigentlich keinem Menschen draußen erklären.“
Warum gab es keine Auflagen für Issa Al H.?
Da Bielefeld weder über die Rückkehr des Ausreisepflichtigen nach dem Abschiebetermin noch über dessen frühere längere Abwesenheit informiert worden sei, habe die ZAB nicht eine sogenannte Nachtzeitverfügung in Erwägung gezogen, erläuterte Paul. Damit hätte Issa Al H. die Auflage bekommen können, sich nachts in seinem Zimmer aufzuhalten.
Paul hatte im Landtag bereits in der vergangenen Woche erklärt, es erhöhe das Risiko, dass der Ausreisepflichtige untertauche, wenn er das Zugriffsdatum kenne. Falls der Betroffene tatsächlich untertaucht, kann wiederum eine Erhöhung der Überstellungsfrist von regulär 6 auf 18 Monate beantragt werden.
Nachdem die sechsmonatige Frist abgelaufen war, wurde der Syrer im August 2023 in eine Einrichtung nach Solingen gebracht. Vier Monate später erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihm den sogenannten subsidiären Schutz zu, der greift, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden können und im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht.
„Stets unauffällig“
Laut Bezirksregierung Detmold hatte sich der Tatverdächtige in der Paderborner Notunterkunft „stets unauffällig“ verhalten und sei an keiner Störung beteiligt gewesen. „Radikalisierungstendenzen wurden nicht beobachtet.“
Issa Al H. wird verdächtigt, bei dem Anschlag auf einem Stadtfest in Solingen am 23. August drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt zu haben. Er hätte nach den sogenannten Dublin-Asylregeln der EU eigentlich nach Bulgarien überstellt werden müssen, denn dort war er zuerst registriert worden. Das scheiterte.
Mit einem neuen Erlass verschärft die Landesregierung nun die Pflichten der kommunalen und zentralen Ausländerbehörden bei Rückführungen abgelehnter Asylbewerber. Künftig muss bei jeder gescheiterten Überstellung unmittelbar geprüft werden, ob ein zweiter Versuch unternommen werden kann, heißt es dort.
Meldepflicht nach mehr als drei Tagen Abwesenheit
Der Erlass verpflichtet die Leitungen der kommunalen Unterbringungseinrichtungen ausdrücklich, jede mehr als drei Tage dauernde Abwesenheit Ausreisepflichtiger unverzüglich an die ZAB zu melden. Diese Informationspflicht gilt auch, wenn die betroffenen Personen wieder auftauchen.
Sofern Betroffene länger als drei Tage abwesend seien, könnten sie von der zuständigen ZAB zur Festnahme ausgeschrieben werden, heißt es in dem Erlass. Die ZAB habe mit Blick auf eine möglicherweise verlängerte Überstellungsfrist zu prüfen, ob der Ausreisepflichtige als flüchtig einzustufen sei.
Falls eine zur Festnahme ausgeschriebene Person zurückkehrt, muss die Einrichtungsleitung unverzüglich die Polizei verständigen. Die Dokumentationspflicht über den gesamten Vorgang wird verschärft.
Ausländerbehörde hat Zutritt zu allen Räumen
Der Erlass stellt zudem klar, dass Mitarbeiter der ZAB in der Unterbringungseinrichtung Zugang zu allen Räumen haben, in denen sich Ausreisepflichtige aufhalten könnten. Für einen Zugriff sei es nicht ausreichend, lediglich das Zimmer der betroffenen Person zu betreten. Auch Gemeinschaftsräume, die Kantine oder die Zimmer weiterer untergebrachter Personen dürften betreten werden.
Nach einem gescheiterten Überstellungsversuch soll bei der Zentralen Fluganmeldestelle (ZFA) nachgefragt werden, ob zwischenzeitlich ein weiterer Platz freigeworden ist. „Die ZFA wird beauftragt, ab sofort bei jeder eingegangenen Stornierung die verbleibende Überstellungsfrist zu überprüfen und umgehend einen neuen Flug zu buchen“, heißt es im Erlass.
Bei Fluchtgefahr Überstellungshaft möglich
Sofern bereits im Vorfeld einer Überstellung das Verhalten des Betroffenen darauf schließen lasse, dass er sich einer Maßnahme entziehen könnte – etwa bei regelmäßigen Abwesenheiten während der Nacht – könne erwogen werden, Überstellungshaft zu beantragen.
Aus Sicht der AfD-Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias wird der neue Erlass mehr Bürokratie bringen – möglicherweise, um die Ministerin künftig besser abzusichern, vermutete sie. (dpa/mig) Aktuell Politik
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