Asyl-Fakten
„Migrationsdebatte vollkommen außer Kontrolle geraten“
Abschiebung, Zurückweisung, Leistungsstreichung – nach Solingen ist die Migrationsdebatte außer Kontrolle geraten. Es scheint, als sei die deutsche Asylpolitik komplett gescheitert. Zahlen aus dem Innenministerium zeigen ein ganz anderes Bild.
Sonntag, 08.09.2024, 16:18 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 08.09.2024, 16:18 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Folgt man der Flüchtlingsdebatte nach dem Messeanschlag mit drei Toten in Solingen, scheint es, als sei die deutsche Asylpolitik vollkommen gescheitert. Zu viel illegale Migration, zu wenige Abschiebungen, zu viele Asylbewerberleistungen, führen Kritiker ins Feld. Sie fordern Zurückweisung an deutschen Grenzen, mehr Abschiebungen und Leistungskürzungen bis auf null. Insbesondere aus den Reihen der Union und der FDP werden Forderungen nach mehr Strenge und Härte laut. Grüne und SPD sind bisher eher zurückhaltend, geben dem Druck allerdings immer mehr nach.
Schlecht, wie es die Debatte nahelegt, steht es allerdings nicht um die Asylpolitik in Deutschland. Das zeigen Zahlen aus dem Innenministerium. Linke-Politikerin Clara Bünger hatte in einer parlamentarischen Anfrage beispielsweise gefragt, wie viele Asylsuchende in Deutschland überhaupt leben, für deren Unterbringung ein anderer europäischer Staat des Dublin-Abkommens zuständig ist. Antwort: Ende Juni waren im Ausländerzentralregister zwar 24.872 Personen registriert, doch nur 6.840 davon galten aber laut dem Dokument, das dem MiGAZIN vorliegt, offiziell als „ausreisepflichtig“ – weit weniger, als die Debatte suggeriert.
Nur 7.000 Personen ausreisepflichtig
Bundesinnenministerium will Menschen, deren Asylgesuch in einem anderen EU-Staat geprüft werden müsste, die Sozialleistungen streichen. „Jetzt stellt sich heraus, dass in Deutschland weniger als 7.000 Menschen leben, auf die das zutrifft“, sagte Bünger. Sie kritisierte, die Bundesregierung wolle „Geflüchtete aushungern“, um sie zur Ausreise zu zwingen. „Die Migrationsdebatte ist vollkommen außer Kontrolle geraten“, sagte sie. „Mit Fakten und realen Problemen haben die menschenfeindlichen Forderungen, mit denen sich Politiker:innen von AfD bis SPD derzeit überbieten, rein gar nichts zu tun“, erklärt Bünger.
Tatsächlich stimmt auch die Behauptung aus der Politik nicht, Behörden seien untätig oder ihnen seien bei Abschiebungen die Hände gebunden. Wie aus der Antwort hervorgeht, geht der Trend eindeutig nach oben. Danach ist die Zahl der Überstellungen in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres – hochgerechnet auf 2024 – bereits deutlich um 20 Prozent gestiegen.
Betroffene nur ganz selten verantwortlich für gescheiterte Abschiebungen
Auch das Bild des Asylbewerbers, der seine Abschiebung durch diverse Tricks und Untertauchen verhindert, entpuppt sich angesichts der Faktenlagen als verzerrt. Die Betroffenen selbst sind nur in ganz selten verantwortlich dafür, dass eine fristgerechte Überstellung scheitert. In etwa neun von zehn Fällen klappt die Abschiebung nicht wegen nicht kooperierenden Zielländern, den Ausländerbehörden oder anderen organisatorischen Problemen.
Wehren sich Betroffene gegen eine Überstellung, geschieht das oft auf dem Rechtsweg – insbesondere nach Italien oder Griechenland. So waren Eilanträge von Betroffenen gegen Überstellungen in diese Länder ganz überwiegend erfolgreich. Nach Auffassung der Gerichte kamen Überstellungen nach Italien zu 66 Prozent, nach Griechenland zu 100 Prozent aus menschenrechtlichen Gründen nicht in Betracht.
Zurückweisungen an deutschen Grenzen bereits Praxis
Die Asyl-Debatte hält auch der bereits gelebten Praxis an deutschen Grenzen nicht stand. So hat die Bundespolizei im ersten Halbjahr 2024 bereits mehr als die Hälfte der „unerlaubt“ nach Deutschland Eingereisten wieder in die Nachbarländer zurückgeschickt. 2023 hatte die Bundespolizei knapp 28 Prozent der Menschen, die sie bei der „unerlaubten“ Einreise nach Deutschland aufgriff, zurückgewiesen. Das geht ebenfalls aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine weitere Anfrage von Bünger hervor.
Demnach registrierten die Behörden an den deutschen Grenzen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 42.307 unerlaubt Einreisende, 21.661 von ihnen wurden zurückgewiesen. Im Jahr 2023 hatte die Bundespolizei noch fast 128.000 unerlaubte Grenzgänger aufgegriffen und 36.000 von ihnen zurückgewiesen. Auch die Zahl derjenigen, die an der Grenze um Asyl bitten, ist laut Bundesinnenministerium gesunken: Nahmen die Behörden 2023 noch bei 45 Prozent der Aufgegriffenen ein Asylgesuch auf, taten sie das im ersten Halbjahr 2024 nur bei 23 Prozent, wie die „Süddeutsche Zeitung“ zuerst berichtete.
Deutlich weniger Asylanträge
Eine Korrektur muss auch bei der Zahl der Erstanträge auf Asyl vorgenommen werden – sie steigt nicht, sondern sinkt. Im aktuellen Jahr lag sie ein gutes Fünftel unter der im Vergleichszeitraum vergangenen Jahres. Nach der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) veröffentlichten monatlichen Asylstatistik wurden bis Ende August rund 160.000 Erstanträge auf Asyl gestellt. 2023 waren es im gleichen Zeitraum gut 204.000. Dies sei ein Rückgang um 21,7 Prozent.
Auch die Zahl der Folgeanträge sei um 9,1 Prozent gesunken. Von Januar bis August wurden nach Angaben des Bundesamts gut 14.000 Folgeanträge gestellt. Hauptherkunftsländer der Schutzsuchenden sind unverändert Syrien und Afghanistan, wobei die Zahl der Anträge von Afghanen um 28,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurückging. Flüchtlinge aus der Ukraine sind in der Statistik des Bundesamts nicht enthalten, weil sie über eine EU-Richtlinie einen Schutzstatus erhalten.
Die Dublin-Regelung
Seit dem Messeranschlag von Solingen vor zwei Wochen dreht sich die politische Debatte in Deutschland um das Thema Zurückweisungen von irregulär eingereisten Flüchtlingen. Der mutmaßliche Täter hätte nach Bulgarien zurückgeschickt werden können. Ein Abschiebeversuch scheiterte, danach lief die Überstellungsfrist ab. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat angekündigt, eine „Dublin-Task-Force“ von Bund und Ländern einzurichten, um Dublin-Überstellungen künftig konsequenter durchzusetzen.
Mit dem Dublin-Abkommen haben sich die europäischen Staaten darauf verständigt, dass Asylsuchende in der Regel in dem Land aufgenommen werden und ihr Schutzgesuch geprüft wird, in dem sie in Europa angekommen sind. Reisen sie in ein anderes Land weiter, können sie in das erste Land zurückgeschickt werden. Das vereinbarte Verfahren sieht allerdings vor, dass die Zuständigkeit zunächst geprüft werden muss, weswegen Personen, die ein Asylbegehren formulieren, an der Grenze nicht zurückgewiesen werden dürfen. (epd/mig) Aktuell Politik
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