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Benjamin Schraven, Migration, Klimawandel, Kolumne, MiGAZIN, Weltsicht
Benjamin Schraven © MiGAZIN

Weltsicht

Das wird man wohl noch sagen dürfen

Die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung ist ein großes Problem. Nicht zuletzt der Migrationsdiskurs scheint diese Spaltung weiter voranzutreiben. Wir müssen wieder lernen, gescheit miteinander zu diskutieren.

Von Sonntag, 08.09.2024, 16:15 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 08.09.2024, 16:23 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Nach dem entsetzlichen Anschlag von Solingen dauerte es nicht lange, bis sich Stimmen aus Politik und Journalismus mit Vorschlägen in der Öffentlichkeit meldeten, wie so eine schreckliche Tat zukünftig zu verhindern sei, bzw. unwahrscheinlicher werde. Dabei geht es nicht nur um das Themenfeld innere Sicherheit, sondern vor allem um die „Begrenzung der irregulären Migration“. Diese Dynamik verstärkte sich noch einmal nach den AfD-Erfolgen bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen.

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Neben politischen Schwergewichten wie Merz oder Spahn formulierte etwa auch der ZEIT-Journalist Jochen Bittner auf „X“ (vormals Twitter) bereits wenige Stunden nach Bekanntwerden der Solinger Bluttat einen Vorschlagskatalog, wie die Politik nun reagieren müsse. Unter anderem forderte Bittner, das individuelle Asylrecht durch eine sogenannte Institutsgarantie zu ersetzen, zu der auch Obergrenzen gehören könnten. Gleichzeitig sprach er sich dafür aus, Kontingente zu schaffen, um besonders hilfsbedürftige Flüchtlinge nach Deutschland zu bringen. So schnell sich Bittner nach dem Messerattentat von Solingen zu Wort meldete, so vorhersehbar waren dann auch die Reaktionen darauf: Neben Zustimmung wurde Bittners Vorschlagsliste von einigen Usern schnell als „rechter Rotz“ oder „Rassismus“ klassifiziert.

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„Wenn aber jemand mit einer Meinungsäußerung, die … nicht extremistisch ist, riskieren muss, als rechtsradikal oder Nazi beschimpft zu werden, dann befördert das keine gesunde Debattenkultur.“

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Ähnliches widerfuhr Ende des vergangenen Jahres bereits Jens Marco Scherf, Landrat des unterfränkischen Landkreises Miltenberg. Basierend auf den Erfahrungen in den Kommunen seines Landkreises warnte der Grünen-Politiker vor den zunehmenden Herausforderungen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Scherf stellte fest, dass die Stimmung in der Bevölkerung beim Thema Geflüchtete gekippt sei. Die Integration werde zunehmend vernachlässigt, da sich der Fokus nur noch auf die Unterbringung der Geflüchtete richten müsse. Durch das Fehlen einer strukturierten Integrationsstrategie und einer Überforderung des Systems sah Scherf zudem langfristig schwerwiegende gesellschaftliche Probleme voraus. Diese zeige sich laut Ansicht des Landrats bereits in Kindergärten und Schulen, wo es das Bildungssystem bereits heute nicht mehr schaffe, den sprachlichen und sozialen Bedürfnissen gerade von nicht-deutschsprachigen Kindern gerecht zu werden. Von der Fluchtberatung bis hin zu Integrationskursen und Berufsschulen – alles sei am Limit. Scherf forderte daher von der Bundesregierung mehr Steuerung in der Migrationspolitik. Auch hierauf gab es vor allem „grünenintern“ schnell Reaktionen, von denen „rassistischer Kackscheiß“ wahrscheinlich noch zu den netteren gehörte.

Die Vorschläge von Bittner und Scherf mag man ablehnen oder kontrovers finden. Aber sind sie wirklich rechtsextrem oder rassistisch? Ihre Wortmeldungen – und einige andere mehr – sowie die Reaktionen darauf in den sozialen Medien verdeutlichen das große Problem einer sich scheinbar immer weiter zuspitzenden gesellschaftlichen Polarisierung in Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften. Vor allem die Diskurse zu Gender(n), Klimawandel oder eben auch Migration scheinen diese Polarisierung immer weiter zu beschleunigen. Die oft getätigte Äußerung, dass es so etwas wie eine Cancel Culture gar nicht gebe und man doch alles sagen dürfe, ist hier wenig hilfreich. Natürlich darf man alles sagen, was das Gesetz nicht verbietet. Wenn aber jemand mit einer Meinungsäußerung, die in den Augen mancher inakzeptabel sein mag, aber nicht extremistisch ist, riskieren muss, als rechtsradikal oder Nazi beschimpft zu werden, dann befördert das keine gesunde Debattenkultur. Das gilt selbstverständlich auch für die Reaktionen, die diejenigen häufig erfahren, die in der Asyl- und Migrationsdebatte auf die rechtliche Situation, menschenrechtliche Standards oder humanitäre Erwägungen verweisen. „Gutmenschentum“ ist nicht selten die mit Abstand harmloseste der ablehnenden Reaktionen darauf.

„Und wir müssen wieder lernen, mit Sachargumenten zu diskutieren, statt die Meinung des Anderen pauschal mit Kulturkampfbegriffen abzuwerten.“

Wir müssen wieder lernen, andere Meinungen auszuhalten – beim Thema Migration und auch darüber hinaus. Das muss zumindest für alle diejenigen gelten, die sich nicht an den äußersten politischen Rändern verorten und die sich zu einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft bekennen. Und wir müssen wieder lernen, mit Sachargumenten zu diskutieren, statt die Meinung des Anderen pauschal mit Kulturkampfbegriffen abzuwerten. Sachargumente sind dabei mehr als nur ein „aber Studien zeigen doch, dass …“. Es lohnt sich immer, in die Tiefe von Faktenlagen und wissenschaftlichen Erkenntnissen einzutauchen und dabei die Komplexität empirischer Zusammenhänge anzuerkennen. Die Wissenschaft an sich gibt es sowieso nicht. Es gibt zahlreiche Expert:innen, die gerne ihre Erkenntnisse zu unterschiedlichen Fragestellungen von Flucht und Migration in nicht-wissenschaftlicher Sprache teilen. Reinschauen lohnt sich – es muss ja nicht immer nur Gerald Knaus sein, der hier Beachtung findet. Der Migrationsforscher Marcus Engler verweist zudem darauf, dass eine Sachdebatte zu Migration nicht nur auf den Aspekt der Migrationsabwehr reduziert werden kann.

Lesetipp: „Klimamigration“: Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht, von Benjamin Schraven, erschienen am 3.7.23 im bei transcript, Taschenbuch, ‎176 Seiten, ISBN-13: ‎ 978-3837665475.

Vielleicht muss für uns alle ein Stück weit gelten, was der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum von politischen und sonstigen Verantwortungsträger:innen vor kurzem in einem Interview mit der ZEIT einforderte: Mehr Einfühlungsvermögen in die Befindlichkeiten der Menschen bzw. des Gegenübers. Das ist wahrlich nicht einfach in einer Zeit der großen Verlustängste und Unsicherheiten, die von globalen Umwälzungen geprägt ist – genauso wie dem fatalen Gefühl, dass viele Dinge nicht besser werden. Eher im Gegenteil: egal ob Gesundheitssystem, Bahn oder Bürokratie, viele Menschen haben nicht zu Unrecht das Gefühl, dass sich die Dinge verschlechtern. Das ist fatal und erschüttert, wie auch Baum feststellt, ein Stück weit den Glauben an die Steuerungs- und Handlungsfähigkeit der Politik. Aber auch hier muss in besonderem Maße gelten: Darüber wird zu reden sein! Meinung

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