Interview
Pichl: Mit Zurückweisungen gefährdet Deutschland die europäische Einigung
In Deutschland wird über das Zurückweisen von Asylsuchenden an der Grenze diskutiert. Rechtlich und praktisch seien die Vorschläge kaum umsetzbar, sagt der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl im Gespräch. Die Forderungen seien Streichholz an einem EU-Pulverfass.
Von Marlene Brey Sonntag, 08.09.2024, 12:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 08.09.2024, 12:04 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Ist die Forderung nach Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze eine Nebelkerze, oder kann das rechtlich funktionieren?
Maximilian Pichl: Normalerweise sind Zurückweisungen an der innereuropäischen Grenze nicht mit europäischem Recht vereinbar. Wird ein Asylsuchender von deutschen Behörden an der Grenze aufgefunden, muss laut dem Dublin-Verfahren festgestellt werden, welcher Staat zuständig ist. Das ist in der Regel der Staat der ersten Einreise in die EU, also zumeist nicht das Nachbarland Polen oder Österreich, sondern etwa Bulgarien oder Italien. Das muss vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem Einzelfallverfahren geprüft werden. Zusätzlich muss der zuständige Staat der Überstellung zustimmen. Das ist also kein Verfahren, das man mal eben in fünf Minuten an der Grenze abwickeln kann. Die Forderung, die Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) ins Spiel bringt, beruft sich nun auf eine angebliche Notlage.
Was ändert eine solche Notlage, wie sie Friedrich Merz anführt?
„Italien, Griechenland oder Bulgarien dürften wohl nur milde lächeln, wenn ausgerechnet Deutschland meint, die Notlage erklären zu müssen.“
Wie gesagt, Zurückweisungen an der innereuropäischen Grenze sind nicht mit europäischem Recht vereinbar. In den europäischen Verträgen sind aber zwei Ausnahmen vorgesehen, und zwar im Fall einer Notlage. Zum einen kann eine Notlage im Fall eines besonders großen Zustroms von Drittstaatsangehörigen ausgerufen werden. Das ist aber ein Verfahren, das auf der europäischen Ebene läuft. Das hat man zum Beispiel 2015/16 für Italien und Griechenland gemacht – damals im Übrigen nicht, um Flüchtlinge zurückzuweisen, sondern um sie in der EU umzuverteilen. Das ist aber sicher nicht, was Herr Merz möchte, denn dann müssten die europäischen Partner ihre Zustimmung geben. Italien, Griechenland oder Bulgarien dürften wohl nur milde lächeln, wenn ausgerechnet Deutschland meint, die Notlage erklären zu müssen.
Was ist die andere Option?
Wenn es um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geht, kann man in sehr theoretischen Fällen vom Europarecht abweichen. Das in Anspruch zu nehmen, haben Staaten wie Ungarn und Österreich schon versucht und sind vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gescheitert. Bisher ist dieser Notlagenmechanismus daher rein theoretischer Natur. Der EuGH ist hier sehr streng, denn wenn jeder Staat frei über solche Notlagen entscheiden könnte, würde das die europäische Rechtsordnung bedrohen. Ich glaube, das Kalkül ist, diesen zweiten Weg auszuprobieren und auf Zeit zu spielen. Denn so ein Verfahren dauert. Oder darauf zu setzen, dass der EuGH seine Meinung ändert, weil sich der Zeitgeist ändert.
Ist die mögliche Zurückweisung von Schutzsuchenden in Ihren Augen eine juristische oder eine politische Frage?
„Jetzt werden, wohl auch im Hinblick auf deutsche Wahlen, europäische Kollateralschäden hingenommen.“
Ich finde, es geht an dieser Stelle nicht mehr um Rechtsfragen. Was da gerade versucht wird, ist, eine Kettenreaktion in Europa auszulösen. 2015 hat sich Deutschland unter Angela Merkel (CDU) explizit gegen Zurückweisungen an der deutschen Grenze entschieden, aus der Befürchtung heraus, dass damit ein Stück weit die europäische Einigung verloren geht. Jetzt werden, wohl auch im Hinblick auf deutsche Wahlen, europäische Kollateralschäden hingenommen. Aber wenn Deutschland die Grenzen schließt, könnte Österreich folgen, denn auch dort sind im Herbst Wahlen. Es könnte einen Dominoeffekt in Europa geben – mit unabsehbaren Folgen für die EU.
Erst in diesem Jahr ist es nach Jahren des Streits unter den EU-Staaten gelungen, das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu reformieren. Was bedeutet es für diese als „historisch“ gefeierte Einigung, wenn Deutschland nun EU-Recht umgehen will?
Das steht natürlich in extremem Widerspruch zu dem Werben für die Reform. Da hieß es noch, man brauche unbedingt eine gemeinsame europäische Antwort. Nun werden nationale Maßnahmen als Lösung hochgehalten. Dabei hat Deutschland über Jahre vom Ersteinreise-Kriterium der Dublin-Regeln profitiert. Viele Staaten wie Italien oder Griechenland haben die fehlende Solidarität beklagt.
„So ein von nationalem Interesse getragener Vorstoß Deutschlands würde sicher nicht auf viel Gegenliebe in Europa stoßen.“
Ich formuliere es mal vorsichtig: So ein von nationalem Interesse getragener Vorstoß Deutschlands würde sicher nicht auf viel Gegenliebe in Europa stoßen. Und das in einem kritischen Umfeld: In Österreich stehen Wahlen an, die rechtsgerichtete FPÖ liegt auf Platz eins. Das EU-Parlament ist nach rechts gerückt, und damit spielen auch dort nationale Egoismen eine größere Rolle. Die neue EU-Kommission muss sich noch formieren. Die Forderung nach Zurückweisungen ist ein Streichholz an einem Pulverfass.
Könnten die Zurückweisungen an der deutschen Grenze denn die Zahl der Ankommenden drastisch senken?
Ich will mich an solchen Spekulationen gar nicht beteiligen, weil man die Folgen einfach nicht vorhersehen kann. Migration ist ein zu komplexes soziales Phänomen. Als etwa die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni 2023 den Notstand für Lampedusa ausgerufen hat, sind die Ankünfte über das Mittelmeer massiv gestiegen. Das war eine Art Sogeffekt. Viele Menschen haben sich offenbar gedacht: jetzt oder nie. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama
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