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Antisemitismus im Wörterbuch © de.depositphotos.com

Dunkelfeld-Studie

Antisemitismus in NRW stärker verbreitet als erwartet

Das Land NRW hat untersuchen lassen, wie tief Antisemitismus in der Gesellschaft verwurzelt ist. Die Ergebnisse sind auch für Wissenschaftler erschreckend. Ein Treiber ist auch Tiktok. Zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gibt es keine nennenswerten Unterschiede.

Von Dienstag, 24.09.2024, 15:11 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 24.09.2024, 15:11 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Antisemitische Einstellungen und Vorurteile gegenüber Juden sind einer Dunkelfeldstudie zufolge in Nordrhein-Westfalen weiter verbreitet als erwartet. Je nach Erscheinungsform weisen acht Prozent bis zu fast einem Viertel der Bevölkerung gefestigte antisemitische Einstellungen auf. Das geht aus der Studie „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024“ hervor, die NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) und die Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) vorlegten.

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Diese sprach von „erschreckenden Erkenntnissen“. Das „antisemitische Grundrauschen“ sei mit der Studie „sehr erhellt“ worden. Die Studie ist die erste große Umfrage zu antisemitischen Vorurteilen in NRW seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 mit mehr als 1.200 Toten und dem darauffolgenden Gaza-Krieg mit etwa 40.000 Toten im Gaza-Streifen, die meisten Zivilisten, Ältere, Frauen und Kinder. Nach Ansicht der beteiligten Wissenschaftler Lars Rensmann und Heiko Beyer zeigt die Untersuchung, dass antisemitische Einstellungen in der Gesellschaft stärker verbreitet seien als bisher in anderen Studien nachgewiesen.

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Vorurteile und Klischees tief verfestigt

Demnach stimmten acht Prozent der Befragten religiös-antisemitischen Aussagen zu. So glauben etwa 12 Prozent, dass die jüdische Religion grundsätzlich Gewalt gegen Kinder legitimiere. Rund ein Viertel schloss sich der offenen Version der Verschwörungstheorie vom angeblich übermäßigen Einfluss „der Juden“ an. Rund ein Viertel der Befragten glaubt auch, dass der Zentralrat der Juden Unfrieden in Deutschland schüre und darum abgeschafft werden sollte. Fast die Hälfte (46 Prozent) stimmte verklausulierten Aussagen von einem übermäßigen jüdischen Einfluss in der Welt zu.

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Ebenfalls fast die Hälfte (47 Prozent) fordert, einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ des Holocausts zu ziehen. Rund die Hälfte stimmt tendenziell zu, dass es in einer Demokratie möglich sein sollte, „den Holocaust kritisch zu hinterfragen“. Im Holocaust wurden in Europa rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten umgebracht. Die meisten von ihnen starben in Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Auch der auf Israel bezogene Antisemitismus hat ein deutliches Ausmaß in NRW. So setzen 38 Prozent der Befragten die israelische Politik tendenziell mit der nationalsozialistischen gleich. Und: 16- bis 18-Jährige sind der Studie zufolge auffällig israelfeindlich eingestellt.

Mehr antisemitische Einstellungen bei AfD-Anhängern

Wer sich politisch rechts verortet, weist beim offenen modernen Antisemitismus höhere Werte auf. AfD-Wähler weisen bei allen Werten außer dem auf Israel bezogenen Antisemitismus höhere Antisemitismus-Werte auf als Anhänger der Union, SPD, Grünen oder FDP. In Teilen ähnlich hohe Antisemitismus-Werte treten auch bei Anhängern des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auf.

Weitere Erkenntnisse der Wissenschaftler: Die Landbevölkerung ist weniger antisemitisch eingestellt als Menschen in der Stadt. Der Bildungsgrad hat nur einen schwachen vorurteilsmindernden Effekt. Höhergebildete wüssten besser, wie sie sich in Umfragen verhalten müssten, hätten aber nicht unbedingt weniger Vorurteile.

Keine signifikanten Unterschiede gibt es zwischen Befragten mit oder ohne Migrationshintergrund. Auffälliger ist jedoch die Rolle der Religion: So liegen die Antisemitismus-Werte von Muslimen über denen von evangelischen oder katholischen Befragten. Unabhängig von der Konfession ist ein häufiger Gotteshausbesuch mit höheren Werten beim offen modernen und religiösen Antisemitismus verknüpft.

Antisemitismus über Tiktok „direkt ins Kinderzimmer“

Die Wissenschaftler forderten angesichts der hohen Anfälligkeit Jugendlicher für antisemitische Ressentiments eindringlich pädagogische Konzepte gegen Antisemitismus schon in der Schule und der Jugendarbeit, vor allem aber auch „regulierende Maßnahmen“ bei sozialen Medien. Plattformbetreiber müssten für antisemitische Inhalte und Hassrede verantwortlich gemacht werden. „Derzeit sind soziale Medien wie Tiktok im Prinzip die Propagandaform des 21. Jahrhunderts, die quasi als erste Sozialisationsinstanz neben den Eltern direkt ins Kinderzimmer wirken“, so der beteiligte Wissenschaftler Rensmann. „Das ist so als würde man kleinen Kindern harten Alkohol ins Kinderzimmer stellen (…).“

Leutheusser-Schnarrenberger sagte, das Land habe eine Machbarkeitsstudie zum Umgang etwa mit Tiktok in Auftrag gegeben. „Wir können Tiktok nicht beiseiteschieben oder liegen lassen, wenn da eine derartig hohe Meinungsbildung und Einflussnahme stattfindet.“ In den Schulen sei eine viel stärkere Befassung mit dem Nahost-Konflikt notwendig. Nicht zuletzt seien „Begegnungen das A und O, und zwar nicht digital, sondern sich gegenüberstehen“.

Die Wissenschaftler forderten auch die Begrenzung des Einflusses autoritärer Staaten, die staatlichen Antisemitismus verbreiten, auf religiöse Verbände. Angesichts der Erkenntnis, dass auch über Gotteshäuser Meinungen verfestigt würden, müsse auch beim islamischen Religionsunterricht an NRW-Schulen geschaut werden, ob er die Erwartungen erfülle, sagte Leutheusser-Schnarrenberger.

Antisemitische Straftaten auf Höchststand

Der jüngste NRW-Verfassungsschutzbericht verzeichnet für 2023 einen drastischen Anstieg bei antisemitischen Straftaten um 65 Prozent auf einen Höchststand von 550 Taten. Vor allem seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober schnellte die Zahl hoch. Hinzu kommen Hunderte antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze.

Innenminister Reul sagte, Straftaten könnten zwar gemessen werden. Die Studie zeige aber den „Zündstoff“ in den Köpfen der Menschen. Fakt sei auch: „Die sozialen Medien sind so etwas wie die Sendemasten von Hass und Hetze.“ (dpa/mig) Gesellschaft Leitartikel

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