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Schule (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

„meet2respect“

Muslime und Juden gehen gemeinsam an Berliner Schulen

Tandems aus Muslimen und Juden gehen in Berliner Schulklassen. Sie bauen Vorurteile ab und bekämpfen Hass. Zum Jahrestag des 7. Oktober erklären Rabbiner Elias Dray und Referentin Seda Çolak, wie sich ihre Arbeit verändert hat.

Von Dienstag, 08.10.2024, 11:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 08.10.2024, 11:26 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Seit mehr als zehn Jahren gehen Tandems aus Muslimen und Juden unter dem Motto „meet2respect“ in Berliner Schulklassen, wenn dort Fälle von Antisemitismus, Gewalt oder Mobbing aufgetreten sind. Mit ihrem Projekt wollen sie einen interreligiösen Dialog ermöglichen, Vorurteile abbauen und Hass bekämpfen. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 markierte einen Einschnitt in den Alltag an vielen Schulen. Zum ersten Jahrestag dieses Angriffs sprechen der Rabbiner Elias Dray und die muslimische Referentin Seda Çolak darüber, wie sich ihre ehrenamtliche Arbeit verändert hat.

Frau Çolak, Herr Dray, wie haben Sie persönlich den 7. Oktober erlebt und wie hat sich Ihre Aufgabe dadurch verändert?

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Çolak: Das war ein Schockmoment für mich. Ich habe im Rahmen meiner Arbeit viele Bekannte und Freunde, die einen direkten Bezug zu Israel haben. Als erstes habe ich vor allem eine Person, die mir besonders nahesteht, kontaktiert und gefragt, wie es ihr und ihrer Familie in Israel geht. Danach wurde mir schnell bewusst, dass der 7. Oktober Auswirkungen auf unsere Arbeit haben wird. An Schulen fehlt oftmals das Wissen um den Israel-Palästina-Konflikt, sowohl bei Schülern und Schülerinnen als auch bei Lehrkräften. Deswegen findet eine Auseinandersetzung im Unterricht häufig gar nicht statt.

Dray: Für mich war es sehr traumatisch. Wir haben zu dem Zeitpunkt des Angriffs das Simchat Torah, ein jüdisches Fest, gefeiert und waren in der Synagoge. Dort benutzen wir keine Handys. Wir haben nur stückweise erfahren, dass irgendwas in Israel passiert sein muss. Noch als wir tanzten, kam jemand herein und sagte, dass wir aufhören sollen, dass gerade unser Volk ermordet wird. Es war sehr emotional, viele wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Es war Sonntag, Feiertag, und wir haben erst am Abend langsam verstanden, was überhaupt passiert ist. Für mich persönlich war es danach schwierig, das Projekt „meet2respect“ weiterzuführen. Ich brauchte Zeit zum Verarbeiten. Doch kurz darauf meldete sich schon die Senatsverwaltung und bat uns darum, Notfallkonferenzen mit Lehrkräften abzuhalten. Die Situation war schnell in die Klassenzimmer eingedrungen. Auch häuften sich die Anfragen aus den Schulen, weil es mancherorts eskaliert ist. Insgesamt eine unheimlich schwierige Zeit.

Sie gehen jetzt schon seit über zehn Jahren an Schulen und sprechen mit Schülern. Was genau hat sich seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober und dem darauf Gaza-Krieg verändert? Gibt es ein Vor und ein Danach?

Dray: Nicht ganz. Jede Klasse ist da sehr verschieden. Aktuell nehmen wir wahr, dass der Nahost-Konflikt oft gar kein Thema mehr an den Schulen ist. Oder dass der Konflikt ausschließlich durch die religiöse Brille betrachtet wird. Oder dass auch überwiegend muslimische Klassen sich ganz klar für den Frieden positionieren. Insgesamt hat sich die Situation aber stark verändert. Es findet eine Polarisierung statt: Entweder du bist für Israel oder für Palästina. Eine Radikalisierung, die auch in Antisemitismus zum Ausdruck kommt und die uns große Sorge bereitet. Dieser verengten Sichtweise treten wir mit unserem Projekt entgegen.

Wie reagieren Sie, wenn Schüler offen antisemitisch sind oder bei Rechtfertigungen von Gewalt? Haben Sie einen konkreten Fall, den Sie schildern können?

Dray: Unsere Strategie ist es, dass der muslimische Teil unseres Tandems den Schülern nahelegt, dass sich der Islam gegen jede Form der Aggression richtet. Aber natürlich hatten wir schon Fälle, in denen Schüler die Hamas als „Widerstandsgruppe“ gefeiert, den 7. Oktober gutgeheißen haben und das Existenzrecht Israels aberkannt wurde. Dem widerspricht der muslimische Vertreter dann vehement.

Und andersherum: Wie gehen Sie auf die Ereignisse im Gaza-Streifen und Westjordanland und die Situation der Menschen dort ein? Wie gehen Sie mit Schülern um, die nach solchen Ereignissen familiär betroffen sind?

Çolak: Die größte palästinensische Community in Deutschland lebt in Berlin. So haben wir in den Klassen oft Schüler und Schülerinnen, die direkt von dem Konflikt betroffen sind. Diese Betroffenheit versuchen wir wahrzunehmen und einzubeziehen. Wir versuchen alle Perspektiven einzubeziehen, aber den Nahost-Konflikt, das machen wir immer deutlich, verstehen wir nicht als religiösen, sondern als territorialen Konflikt. Unser Projekt setzt sich für Frieden ein. Wir haben eine sehr heterogene Zielgruppe, aber in den 90 Minuten, die wir mit den Klassen haben, können wir natürlich auch nicht jedes Problem lösen. Doch ich glaube, diese Erfahrung zu machen, diese realen Personen kennenzulernen, das bewirkt schon einiges. Letzte Woche hatte ich mit meinem Kollegen eine tolle Erfahrung: Nachdem wir am Vortag in einer anderen Klasse derselben Schule waren, ist uns auf dem Gang ein muslimischer Schüler entgegengekommen, der meinen jüdischen Kollegen mit „Schalom“ gegrüßt hat. Diese positiven Momente machen unser Projekt aus und zeigen mir, dass meine Arbeit etwas bewirkt.

Dray: Mir ist es wichtig, auch von jüdischer Seite in den Klassen zu betonen, dass es mir sehr leidtut, dass Zivilisten in dem Konflikt verletzt und getötet werden.

Çolak: Und andererseits sehen die Schüler und Schülerinnen ja auch deine direkte Betroffenheit. So wird klar, dass es nicht nur Leid, sondern auch Mitgefühl auf beiden Seiten gibt.

Kann in einer solch aufgeheizten Stimmung unter jungen Menschen überhaupt ein konstruktiver und differenzierter Dialog zustande kommen?

Çolak: Unmittelbar nach dem 7. Oktober war das schwierig, da haben wir verstärkt auf Wissensvermittlung gesetzt. Hier zeigt sich ein Problem, das wir in der gesamten Gesellschaft haben: Viele haben eine Meinung zu dem Konflikt, aber nicht das dazugehörige Wissen. Momentan arbeiten wir wieder interaktiver, wir sprechen meist nicht direkt über den Konflikt, sondern über unsere Religionen. Bei uns geht es um Islam und Judentum, um Gemeinsamkeiten, um Begegnung. Das kann nach unserer Wahrnehmung deeskalierend wirken. Auch wird die Diskussion so oft interessanter, für viele Schüler und Schülerinnen ist es die erste Möglichkeit, mit einer jüdischen oder muslimischen Person zu sprechen. Und wenn das Thema doch später aufkommt, ist so erstmal eine gute Grundlage gelegt.

Es hat sich nach dem 7. Oktober schnell gezeigt, dass radikale Akteure wie die Hamas den Kampf um die Bilder auf den sozialen Netzwerken gewinnen. Junge Menschen verbringen viel Zeit auf Instagram, TikTok und Co. Bemerken Sie eine Radikalisierung in den Klassenzimmern auch über das Internet?

Dray: Ich merke das auch an den Inhalten, die mir auf sozialen Medien vorgeschlagen werden. Unmittelbar nach dem Ereignis war es extrem, aktuell flaut es meiner Wahrnehmung nach wieder ab. Dass Jugendliche dadurch einseitig beeinflusst werden, steht außer Frage. Hier muss man Medienkompetenzen an den Schulen erwerben.

Leiten Sie daraus politische Forderungen ab? Was erwarten Sie von der Zivilgesellschaft?

Dray: Wir sehen aktuell, dass die rechten und linken Ränder Zulauf haben. Umso wichtiger ist politische Bildung in der Breite, da müssen wir viel mehr machen. Wir müssen verstehen, dass die Wertevermittlung, Beziehungen und das gegenseitige Verständnis enorm wichtig sind. Es ist fünf nach zwölf. Die Politik muss jetzt umsteuern, sonst wird das Schiff abdriften. Strategisch und nicht nur als bloße Reaktion auf einzelne Ereignisse. Das geht vom Studienplan für Lehrkräfte, über die finanzielle Ausstattung von Projekten wie unserem bis hin zu Sensibilisierungsarbeit in Jugendzentren. Wenn die jungen Leute nur noch den Radikalen zuhören und die Schulen nichts dagegensetzen, werden wir unsere gesellschaftliche Mitte verlieren. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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