Hadija Haruna-Oelker, Buch, Zusammensein, Autorin, Journalistin
Hadija Haruna-Oelker © Katarina Ivanisevic

Haruna-Oelker im Gespräch

Die Schule ist ein Trittbrett für den Arbeitsmarkt, der nur bestimmte Menschen aufnimmt.

Hadija Haruna-Oelker plädiert in ihrem neuen Buch „Zusammensein“ für eine inklusive Gesellschaft, in der Unterschiede anerkannt werden. Im Gespräch kritisiert sie historisch bedingte Ausschlüsse und fordert tiefgreifende Reformen in Bildung und Arbeitsmarkt.

Von Stefanie Endres, Malena Schlor Dienstag, 22.10.2024, 12:14 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 22.10.2024, 12:14 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

In Ihrem neuen Buch gehen Sie der Frage nach, wie wir Räume schaffen können, in denen alle willkommen sind. Im Zentrum stehen Ihre Erfahrungen als Schwarze Frau und nichtbehinderte Mutter eines behinderten Kindes. Warum werden so viele marginalisierte und explizit behinderte Menschen in unserer Gesellschaft immer noch ausgeschlossen?

Hadija Haruna-Oelker: Diese Frage ist für mich der Ausgangspunkt meines Nachdenkens, das zunächst in die Vergangenheit führt. Gründe liegen unter anderem in der eugenischen Forschung und dem Mord an behinderten Menschen während des Nationalsozialismus. Diese Kapitel sind gesellschaftlich schlecht aufgearbeitet und die Folgen zeigen sich heute noch auf unterschiedliche Weise. Was zusammen mit behinderten Menschen auch jüdische, queere und Schwarze Menschen, Sinti:izze und Romnja betrifft. Und wir sehen die Kontiunität der Gewalt aktuell in den gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich in Rassismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit aber auch in sozialdarwinistischen Tendenzen ausdrücken. Dabei spielt ganz konkret der Ableismus, also die Ausgrenzung, Diskriminierung und Feindlichkeit gegenüber behinderten Menschen eine Rolle. Dazu kommt, dass nicht offen über Behinderung oder chronische Erkrankungen in unserer Gesellschaft gesprochen wird, obwohl es viele Menschen angeht. Die Gründe für den Ausschluss sind also vielfältig – auch dahingehend, dass sich aus intersektionaler Perspektive die Erfahrungen nicht einfach nach Gruppen voneinander trennen lassen. Sie überschnei­den sich, wenn ich beispielsweise auf mein behindertes Kind of color schaue.

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Das erklärt, warum sie in „Zusammensein“ in einem großen Kapitel auch explizit auf die historischen Wurzeln von Ableismus in Deutschland eingehen, insbesondere auf die NS-Zeit. Was können/müssen wir verändern, um dieses historische Erbe zu überwinden?

Die Antwort auf diese Frage mündet in einer anderen Frage – nämlich, wo sich nichtbehinderte und behinderte Menschen überhaupt begegnen? Sie leben schon sehr lange in getrennten Welten. Unser Bildungssystem und der Arbeitsmarkt sind so strukturiert und das aufgrund der Geschichte, deren Wirkung sich unhinterfragt in unsere Sozialisierung und damit unsere Vorstellung von behinderten Menschen eingespeist hat. Diese können aber überwunden werden. Darum ist es grundlegend und der erste Ansatz, auf den ich im Buch eingehe, sich mit den Vorstellungen unseres Menschseins von der eigenen Kindheit und Kindern ausgehend auseinanderzusetzen. Woher stammen beispielsweise die Prinzipien unserer Leistungsgesellschaft? Ein „was kannst du schon“, das bereits Kinder in einen Wettbewerb stellt. Die kategorisiert und entsprechend nach körperlichen und kognitiven oder geistigen Potentialen bewertet werden. Der Blick in die Vergangenheit hilft, unsere Vorstellungen von gängigen Normen eines gesunden oder leistungsfähigen Körpers zu hinterfragen. Was wir als Talent eines Menschen wahrnehmen, was schön ist oder welches Leben wir als lebenswert erachten?

Sie haben es angesprochen und beschreiben auch in Ihrem Buch, wie von Politik und Wirtschaft aktiv an der Trennung von Menschen mit und ohne Behinderung gearbeitet wird. Inklusion ist insbesondere im Bildungssystem immer wieder ein Thema. Wo müsste die Politik ansetzen?

„Das Bildungssystem ist für mich das Trittbrett für den späteren ersten Arbeitsmarkt, der nur bestimmte Menschen aufnimmt und behinderte Menschen auf dem zweiten Arbeitsmarkt ausbeutet.“

Die Frage von Bildung und Inklusion ist ein innenpolitisch hochbrisantes Thema, weil damit unsere Leistungsgesellschaft und das dreigliedrige Schulsystem kritisch hinterfragt werden. Das Bildungssystem ist für mich das Trittbrett für den späteren ersten Arbeitsmarkt, der nur bestimmte Menschen aufnimmt und behinderte Menschen auf dem zweiten Arbeitsmarkt ausbeutet. So spiele ich im Buch den Gedanken durch, warum es nicht nur in der Theorie gut wäre, Leistungsdruck und Elitenbildung zu verhindern. Weil dieser Effekt schädlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einer Gesellschaft der Gegenseitigkeit ist, um die es mir geht. Wissenschaftliche Befunde zeigen, dass alle Kinder von einem gemeinsamen Lernen profitieren und die Lernerfolge Einzelner nicht darunter leiden. Es geht im Kern um die Reform eines Systems, das demokratische und menschenrechtliche Defizite hat und neu ausgerichtet werden sollte. Es braucht dazu einen Plan, der solide gemacht ist und bescheiden genug bleiben muss, um erfüllt werden zu können. Ein erster Schritt wäre, öffentlich wieder über Inklusion zu sprechen und ein einheitliches, politisches Verständnis von ihr zu entwickeln. Denn das übergeordnete Problem beginnt damit, dass sie unterschiedlich verstanden wird. Mit Blick auf die Schule wird Inklusion meistens als Integrationsmaßnahme umgesetzt, weshalb auch von „Pseudoinklusion“ und „Zweckentfremdung der Behindertenrechtskonvention“ die Rede ist. Zu letzterer hat sich Deutschland bereits 2009 verpflichtet und von der UN erst kürzlich ein schlechtes Zeugnis für die Umsetzung bekommen. Faktisch passiert hierzulande genau das Gegenteil von Inklusion, weil die Sondersysteme nicht abge­baut, sondern vielmehr erhalten und ausgebaut werden.

Sie sagen, dass selbst Schulen, die sich Inklusion auf die Fahnen schreiben, das eher kosme­tisch betreiben. Was läuft in anderen Ländern besser als in Deutschland? Und was muss sich bei uns verändern, damit echte Inklusion möglich ist?

„Die Inklusion ist nicht gescheitert, wie es oft heißt. Es gibt noch viel Luft nach oben und konkrete Konzepte…“

Es wurde in den Bundesländern, aber auch bundespolitisch viel Zeit verspielt, um die gesamt­gesell­schaftlichen Kosten eines defizitären Systems zu minimieren, in dem für Kinder das spätere soziale Leben maßgeblich geprägt wird. Dazu fehlt es allerorts an entsprechendem diskriminierungssensiblem Wissen. Menschen, die mit Kindern arbeiten, sollten sich mit dem Thema Behinderung und anderen Differenzmerkmalen auskennen und verstehen, warum sie nicht darauf reduziert werden sollten. Dieses diversitätsbewusste Verständnis braucht es, um neue Schulkonzepte und didaktische Ideen beispiels­weise auf Basis der Erkenntnisse der Disability Studies zu entwickeln. Denn auch wissenschaftlich zeigt sich eine Diskrepanz in den unterschiedlichen Forschungsdisziplinen, die sich im Förder- oder Rehabi­litationsbereich mit dem Thema Behinderung beschäftigen. Es ist mir wichtig, noch einmal zu betonen: Die Inklusion ist nicht gescheitert, wie es oft heißt. Es gibt noch viel Luft nach oben und konkrete Konzepte, wie eine Organi­sationsentwicklung im Bereich Schule aussehen könnte. Beispiele aus Ländern wie den USA, Finnland, Norwegen und Italien zeigen, dass es zwar einen langen Atem dafür braucht und Ressourcen, aber dass dadurch ein gesellschaftlicher Zusammenhalt gefördert wird. An erster Stelle steht darum die Abschaffung der Sondersysteme. Dafür gibt es schon lange Pläne und Richtlinien, die aber politisch wirklich gewollt und umgesetzt werden müssten.

Info:Zusammensein: Plädoyer für eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit“ von Hadija Haruna-Oelker, btb Verlag, erschienen am 16. Oktober 2024, Gebundene Ausgabe, 416 Seiten, ISBN-10: 3442759471.

Sie schreiben über Ihr neues Buch, dass es eines ist, „das ich gebraucht hätte, als ich Mutter und zur Verbündeten meines Kindes wurde.“ Was hätten Sie gerne gewusst, bevor Sie Mutter wurden? Und was wünschen Sie sich von der Gesellschaft für Ihren Sohn?

Ich hatte mich auf mein Kind im Geiste vorbereitet, war auf mögliche Rassismuserfahrungen eingestellt. Schlussendlich war ich auf nichts vorbereitet. Zum einen, weil ich sowieso nicht wusste, wie Elternsein funktioniert und ich mich zwar mit ableismuskritischem Denken beschäftigt, aber nun umso mehr die Sorge hatte, wie ich mein Kind gut begleiten kann. Dazu die Strukturen, von denen wir fortan abhängig sein sollten und meine noch fehlende Kenntnis darüber. Inzwischen geht mein Kind zur Schule und ich habe dieses machtkritische Buch geschrieben. Ich wünsche mir, dass sich ein selbstverständliches Gefühl verbreitet, dass ein Leben mit einem behinderten Kind nicht negativer verläuft als das mit einem nichtbehinderten. Und dass mehr nichtbehinderte Menschen verstehen, dass sie keine besondere Art von Eltern brauchen, sondern Bezugspersonen, die sie unterstützen und (selbst)bestärken – so wie alle Kinder. Aber das aufgrund fehlender Informationen diese Unterstützung oft zur Herausforderung wird. Ich wünsche mir, dass Menschen verstehen, dass Sätze wie „Hauptsache gesund“ oder „habt ihr es vorher gewusst?“ als einen subtilen, gängigen Selektionsgedanken hinterfragen. Und verstehen, dass es in Wahrheit für Nichtbehinderung und Gesundheit keine Garantie und kein Recht auf ein nichtbehindertes oder chronisch gesundes Kind gibt. Um diesen verzerrten gesellschaftlichen Vorstellung entgegenzuwirken, braucht es ein Zusammensein. Und das wünsche ich mir.

In Ihrem letzten Buch „Die Schönheit der Differenz“, das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, haben Sie sich mit menschlichen und gesellschaftlichen Unterschieden beschäftigt. Jetzt geht es um ein Zusammensein. Worum geht es Ihnen dabei konkret?

Es geht mir insgesamt darum, unsere Unterschiede als ein gesellschaftliches Fachgebiet zu erklären. Ich möchte zeigen, dass ein Verständnis für unserer Identitäten und unser Menschsein wenig mit feuilletonistischen Kulturdebatten zu tun hat, sondern mit Sachkompetenz, die ein Mensch sich aneignen kann. Angesichts der antidemokratischen Entwicklungen braucht es Ideen für ein einander anerkennendes Miteinander. Inklusion als ein demokratisches Grundprinzip unterstützt den Weg dorthin.

Was macht für Sie denn eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit aus?

Es ist eine emanzipatorische, kinderfreundliche Gesellschaft, in der alle Menschen sich von Anfang an entfalten können, um die Menschen zu werden, die sie wirklich sind. In der alle gleich wichtig und den gleichen Wert haben, so wie es unsere Menschenrechte vorgeben, die vom Grundgesetz geschützt werden. In dieser Gesellschaft gibt es ein verankertes Bedürfnis, Dinge zu teilen und sich zu kümmern hat einen Wert. Weil es um das Gemeinwohl aller geht, was nicht bedeutet, nicht mehr an sich selbst denken zu dürfen, nur eben in ausgeglichenerem Maße. Angewiesenheit würde quasi zur positiven Grundlage unserer Gesellschaft und damit ein Bewusstsein für Gerechtigkeit und Solidarität stärken. In einer Gesellschaft der Gegenseitigkeit finden (Ver-)Gemeinschaftsprozesse statt. Das bedeutet Bezie­hungsarbeit auch im Umgang mit Konflikten und ein so genanntes „Powersharing“, weil es auf dem Weg auch einen Ausgleich für die Nachteile von bestimmten Menschen braucht, die über Jahrzehnte geschaffen wurden. Gegenseitigkeit heißt also auch, sich gegenseitig Platz zu machen und zeitweise zu verzichten. Es genügt deshalb nicht nur der Wunsch nach einer zugewandten Gemeinschaft, sondern es braucht dafür ein konsequentes Einfordern, Einsatz und Ressourcen. Welchen Unterschied macht es zum Beispiel, dass ich das alles hier als nichtbehinderte Person schreibe? Oder wenn wahlweise eine weiße Person sich gegen rassistische Routinen einsetzt? Die Idee der Gegenseitigkeit beinhaltet also auch, sich füreinander stark zu machen. Denn schlussendlich müssen alle gemeinsam überlegen, wie sie in einer Demo­kratie der Zukunft zusammenleben wollen. Aktuell Feuilleton Interview

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