Weltsicht
Die Welt hat ein Gewaltproblem
Europa mag ein Migrationsproblem haben. Die Welt hat vor allem ein Gewaltproblem – und es ist komplex. Mithin gibt es keine einfachen Lösungen – apropos Fluchtursachen.
Von Benjamin Schraven Mittwoch, 23.10.2024, 10:14 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 22.10.2024, 17:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Europa hat ein Migrationsproblem – das jedenfalls ist der Eindruck, wenn wir uns die Schlagzeilen zu aktuellen Debatten in der Bundespolitik oder auf EU-Ebene anschauen. Externalisierung von Asylfahren in sogenannte Drittstaaten, härte Abschiebepraxis oder Leistungskürzungen für Asylsuchende – das sind nur einige der Stichworte, die die aktuellen Debatten ganz gut zusammenfassen. Es geht in erster Linie um eine starke Begrenzung der Anzahl neuer Asylsuchender.
Im Gegensatz zu der Zeit nach der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015/2016 findet gegenwärtig kaum eine Debatte um die Ursachen der Asylmigration statt. Und wenn sie stattfindet, dann dreht sie sich um – sehr vermeintliche – Push-Faktoren bzw. „Migrationsmagneten“ wie Sozialleistungen in Deutschland. Ein Blick in die Länder mit den meisten Geflüchteten weltweit zeigt allerdings: Wir haben ein Gewaltproblem.
Ein Blick auf die Zahlen verrät, dass in den letzten gut zehn Jahren die Anzahl von Geflüchteten und Vertriebenen weltweit dramatisch angestiegen ist. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR gab es Ende des Jahres 2023 weltweit über 117 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Im Vergleich dazu waren es im Jahr 2020 „nur“ etwa 82 Millionen Menschen und im Jahr 2013 etwas über 51 Millionen Menschen.
„Ein Großteil derjenigen, die in ein anderes Land fliehen müssen, gehen zu einem Großteil in ein Land des Globalen Südens. Europa steht hier weniger im Fokus.“
Mehr als die Hälfte der Vertriebenen rund um den Globus sind Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes fliehen müssen. Aber auch ein Großteil derjenigen, die in ein anderes Land fliehen müssen, gehen zu einem Großteil in ein Land des Globalen Südens. Europa steht hier weniger im Fokus, als es die Menschen in Europa gemeinhin wahrnehmen. Wenn wir die Hauptherkunftsländer von Geflüchteten betrachten, so sind dies zum Großteil ebenfalls Länder des Globalen Südens. Aber so unterschiedlich diese Länder wie Syrien, Südsudan, Myanmar, Somalia, die Demokratische Republik Kongo oder Afghanistan sein mögen, sie verbindet eine zum Teil seit Jahrzehnten anhaltende Geschichte von Gewaltkonflikten.
In der Betrachtung des weltweiten Konfliktgeschehens in den letzten gut drei Jahrzehnten führte das Ende des Kalten Krieges in den frühen 1990er Jahren zu einer Entspannung in vielen Regionen. Konflikte zwischen Staaten und auch die Todeszahlen durch bewaffnete Konflikte gingen zurück. Allerdings nahm die Anzahl der Bürgerkriege vor allem auf dem afrikanischen Kontinent während der 1990er Jahre zu. Der Völkermord in Ruanda im Jahr 1994 sowie die Gewaltkonflikte in Liberia, Sierra Leone oder der Demokratischen Republik Kongo führten zu Hunderttausenden von Toten und Geflüchteten.
Lesetipp: „Klimamigration“: Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht, von Benjamin Schraven, erschienen am 3.7.23 im bei transcript, Taschenbuch, 176 Seiten, ISBN-13: 978-3837665475.
Daneben forderten in dieser Zeit die blutigen Kriege auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens zig-tausende Todesopfer und verursachten Vertreibung in riesigem Maßstab. In den 2000er Jahren nahmen innerstaatliche Konflikte und Terrorismus zu, wobei dies sich im Rahmen des US-amerikanischen „War on Terror“ nach dem 11. September 2001 gerade auf den Irak und Afghanistan verlagerte und die Anzahl der Konflikttoten und Vertriebenen vergleichsweise gering blieb.
In den 2010er Jahren schließlich kam es im Nahen Osten und Nordafrika zu neuen Konflikten, die nicht nur die Toten-, sondern auch die Geflüchtetenzahlen massiv anwachsen ließen. Neben dem Jemen oder Libyen wurde vor allem der Konflikt in Syrien zu einer der blutigsten Auseinandersetzungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch Konflikte wie die im Südsudan, in den Ländern des westlichen Sahel oder in Nigeria (Stichwort: Boko Haram) schürten diesen Trend weiter mit an. In den 2010er Jahren kam es dadurch zu einem bis heute andauernden Anstieg der weltweiten Flüchtlings- und Vertriebenenzahlen, bei dem ein trauriger Rekord jeweils im Folgejahr wieder durch einen neuen ersetzt wurde. Der vollumfängliche russische Angriffskrieg in der Ukraine seit Februar 2022 sowie die Situation im Nahen Osten nach dem 07. Oktober 2023 haben diesen Trend nur noch weiter verstärkt. Der Krieg in der Ukraine stellt aber insofern eine Ausnahme dar, als dass zwischenstaatlichen Kriege in der Zeit nach dem Kalten Krieg die Ausnahme geblieben sind.
„Sollten es in Europa wieder in Mode geraten, über die Ursachen von Flucht zu reden, so müssen wir über Gewaltsituationen reden.“
Auf der anderen Seite existieren heute eine ganze Reihe an langanhaltenden innerstaatlichen Kriegen mit unzähligen staatlichen und nicht-staatlichen Gewaltakteuren. Zwar sind es neben den bewaffneten Auseinandersetzungen auch staatliche Repression, wirtschaftliche Not, ökologische Katastrophen oder politische Instabilität bzw. eine Vermischung dieser Faktoren, die Fluchtmigration auslösen. Es wäre allerdings töricht, wenn man das weltweite Anwachsen kriegerischer Gewalt in den letzten anderthalb Jahrzehnten nicht als einen Hauptfaktor für die aktuelle globale Situation bei Flucht- und Gewaltmigration identifizieren würde.
Sollten es in Europa also wieder mehr in Mode geraten, über die eigentlichen Ursachen von Flucht und Verzweiflungsmigration zu reden und wie man diesen besser begegnen kann, so müssen wir über diese komplexen (innerstaatlichen) Gewaltsituationen reden. Hier bedeutet Komplexität leider, dass eine Befriedung der Konfliktsituationen aufgrund der Vielzahl der Akteure, Allianzen und Interessenslagen nicht nur ein wenig, sondern viel mehr Anstrengungen bedarf, um dauerhafte Friedenslösungen zu finden. Leichter wird es auch insofern nicht, als dass die Auswirkungen der Klimakrise oder geopolitische Interessenslagen Konfliktsituationen weiter verkomplizieren. Leider gilt hier: The trend is not your friend. Meinung
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