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Mann in Handschellen (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

Schleuser als Sündenböcke der EU

Solidarität statt Kriminalisierung

Die Kriminalisierung von Geflüchteten als Schleuser ist ein Abschottungsinstrument der EU. Dabei haben Menschen keine andere Wahl. Doch es gibt Widerstand gegen diese Politik.

Von , und Montag, 04.11.2024, 11:29 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 05.11.2024, 12:08 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Enthüllungen von Correctiv über die Deportationspläne von Rechtskonservativen und AfD-Funktionären führten zu vielen politischen Appellen, die Demokratie und „europäische Werte“ zu verteidigen. Gleichzeitig mobilisierten sich bundesweit über drei Millionen Menschen auf den Straßen in den größten Protesten in der Geschichte der Bundesrepublik gegen den Rechtsruck. Dennoch erlebten wir keine Maßnahmen für eine offene Gesellschaft oder ein Verbot der AfD.

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Stattdessen verabschiedet der Bundestag Anti-Migrationsgesetze, die Bundesregierung verschärft Grenzkontrollen und das Asylrecht wird immer weiter ausgehöhlt. Es wird uns kein alternatives Programm zu den menschenverachtenden Ideen der AfD präsentiert. Im Gegenteil: viele Parteien übernehmen den Diskurs der Rechtsextremen, den sie offiziell ablehnen. So wurde die Stimmung gegen Geflüchtete und Migrant:innen weiter angeheizt, für jedes Problem werden sie zu Sündenböcken erklärt.

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Das hat dramatische Folgen: Die Exklusion, Entmenschlichung und Entrechtung von Migrant:innen und Geflüchteten sind europaweit verfestigt. Möglichkeiten für legale Einreisen in die EU sind praktisch nicht vorhanden. Gleichzeitig dient die Kriminalisierung von Migrant:innen als weiteres Instrument dieser Abschottungspolitik. Während Europa seine Grenzen immer mehr aufrüstet, wird nicht nur die Migration selbst, sondern jede Form der Unterstützung kriminalisiert. Es geschieht unter dem Deckmantel, „Schleuserkriminalität“ zu bekämpfen, zementiert allerdings die tödlichen Grenzen Europas und hält die ungerechten Wohlstandsunterschiede zwischen dem Globalen Norden und Süden aufrecht.

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Die Kriminalisierung von Fluchthilfe ist ein weiteres, folgenschweres, Instrument, um Solidarität zu unterbinden und von den katastrophalen und häufig tödlichen Bedingungen auf den Fluchtrouten abzulenken. Die EU und ihre Mitgliedstaaten schieben damit ihre Schuld auf „skrupellose Schleuserbanden“, während diese oft die einzige verbleibende Transportmöglichkeit für Migrant:innen darstellen. Laut Europol nutzen 90 Prozent der Migrant:innen Schleuser-Dienste auf ihrem Weg. Kurz: Ohne „Schleuser“ hätten viele Menschen gar nicht die Möglichkeit, überhaupt noch in EU-Staaten zu gelangen, eine Voraussetzung, um von ihrem Menschenrecht auf Asyl Gebrauch zu machen. Legale Alternativen werden wissentlich und absichtlich verhindert.

Info: Die medico Gruppe Tübingen veranstaltet mit dem Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik am 12.11.24 in der Alten Aula Tübingen die Benefiz- und Protestveranstaltung „Das Recht auf Bewegungsfreiheit verteidigen“ zur Debatte um Migration und Kriminalisierung der Fluchthilfe am Beispiel Afrika und den Zusammenhang zum aktuellen Rechtsruck. Es sprechen u.a. die Aktivist:innen Moctar Dan Yayé (Alarme Phone Sahara) und Emmanuel Mbolela (Marokko), sowie Gilda Sahebi und Christian Jakob.

Der Abend wird online gestreamt. Mehr Infos gibt es hier.“

Die ausufernde Kriminalisierung von „Schleusern“ in der EU hat drastische Folgen für einzelne Menschen und ihre Familien: Insbesondere Schutzsuchende, die selbst fliehen und auf ihrem Weg anderen helfen, werden strafrechtlich verfolgt. Ihnen wird „Beihilfe zur illegalen Einreise“ vorgeworfen, nur weil sie während der Reise ein Boot oder Auto gesteuert haben oder gezwungen waren, andere Tätigkeiten während eines Grenzübertritts zu übernehmen.

Die dafür zu erwartenden Strafen sind absolut unverhältnismäßig, in einigen Fällen härter als Mord. In einer Studie hat borderline-europe e.V. die Situation in Griechenland beleuchtet: Dort drohen den Angeklagten im Durchschnitt bis zu 46 Jahre Haft. Die Verfahren sind zudem geprägt von Rechtsbrüchen: Sie dauern im Schnitt gerade mal 37 Minuten, juristischer Beistand wird oft erst zu Beginn des Prozesses bereitgestellt, und die Übersetzungen sind unzureichend. Häufig kommt es zudem zu Gewaltanwendungen durch Polizei- und Grenzbeamt:innen.

Doch es regt sich Widerstand. Organisationen wie borderline-europe e.V. setzen sich schon lange für Bewegungsfreiheit und gegen die Kriminalisierung von Migrant:innen ein. Sie wollen eine Welt ohne Grenzen, in der Flucht und Migration als Menschenrecht anerkannt werden.

In den letzten Wochen konnte man die Kraft der Solidarität eindrucksvoll erleben: Der iranische Asylsuchende Homayoun Sabetara, der 2021 in Thessaloniki festgenommen wurde, kann nach über drei Jahren Haft endlich wieder in Freiheit leben. Der Iraner war im August 2021 mit sieben weiteren Migranten aus der Türkei nach Griechenland gekommen und in Thessaloniki von der Polizei als Fahrer des Autos festgenommen worden. Am Abfahrtsort war Sabetara unter Druck gesetzt worden, das Steuer zu übernehmen. Dafür hatte er sich nach der griechischen Gesetzgebung wegen „Menschenschmuggels“ vor Gericht zu verantworten. Obwohl er als „Schleuser“ verurteilt wurde, wurde seine Strafe im Berufungsverfahren erheblich reduziert. Das Gericht erkannte, dass er sich auf seinem eigenen Migrationsweg befand. Die breite Unterstützung der #FreeHomayoun-Kampagne während seines Berufungsverfahrens zeigen, dass Solidarität nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf das Justizsystem haben kann, sondern dass sie in vielen Fällen die einzige Möglichkeit für unschuldige Menschen ist, ihre Rechte wahrzunehmen.

Neben zivilgesellschaftlicher Unterstützung ist erfahrene anwaltliche Hilfe für solche Erfolge unerlässlich. Trotz des Menschenrechts auf Verteidigung können sich viele der Angeklagten ihre Verteidigung nicht leisten. Hier setzt der „Bewegungsfreiheits-Fonds“ an, der von medico international e.V. und de:criminalize ins Leben gerufen wurde. Medico international engagiert sich seit langem für die Bewegungsfreiheit und führt öffentlich wirkungsvolle Kampagnen durch. De:criminalize, gegründet von Aktivist:innen, die auch bei borderline-europe e.V. aktiv sind, übernimmt die Fallunterstützung und hilft, die Verfahren zu begleiten. Die Wirkmacht des Fonds ist von Spenden abhängig.

Der zunehmende Rechtsruck in Europa spiegelt sich besonders im neuen EU-Migrations- und Asylpaket wider. Es wird einmal mehr deutlich, dass der Staat im Kampf gegen den Faschismus nicht nur kein Verlass ist, sondern dass das Konzept des Nationalstaates in direktem Widerspruch zum Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit steht. Als Antifaschist:innen sind wir aufgerufen, entschlossen zu handeln und praktische Solidarität zu zeigen, die Flucht und Migration als Ausdruck der Menschenwürde begreift! Das Recht auf Freizügigkeit muss nicht nur grenzenlos, sondern absolut bedingungslos sein.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, das unter dem Dach von adis e.V. Antidiskriminierung – Empowerment -Praxisentwicklung organsiert ist. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa zwei Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.

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