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Film, Kino, Plakat, Martin liest den Koran, Kritik
Plakat zum Film „Martin liest den Koran“

Kinostart

Debatte gegen den Tod

Jurijs Saule inszeniert in „Martin liest den Koran“ provokant eine thrillerhafte Diskussion über religiösen Extremismus und die Auslegung von Glaubensgeboten. Eine Verschmelzung von Genre und Diskurs.

Von Mittwoch, 06.11.2024, 10:34 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 06.11.2024, 10:35 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Sie sorgt gleich ab Minute eins für ein Unbehagen, diese verrückte, sich autonom bewegende Kamera (Arsenij Gusev). Manchmal schleicht sie durch die Räume, manchmal blickt sie mit Weitwinkelperspektiven gleich einer Überwachungskamera aus den Ecken, zwischendurch zeigt sie Handlungsmöglichkeiten, die die Figuren haben, aber nicht einlösen werden. Und dann wieder lugt sie auf die Ereignisse, als wäre sie selbst ein Wesen, ob ein unsichtbares menschliches oder etwas Höheres, bleibt ein Geheimnis von Jurijs Saules „Martin liest den Koran“.

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Wie der Titel erahnen lässt, geht es um das Verhältnis von Weltlichem und Gott, allerdings in seiner fundamentalistischen, durch und durch gegenwärtigen Horrorvariante. Der Koran lesende Martin (Zejhun Demirov), ein Familienvater, der den Islam seit einem Jahr für sich entdeckt hat, steht plötzlich beim Islamwissenschaftler Prof. Neuweiser (Ulrich Tukur) unter dem Vorwand vor der Bürotür, er wolle eine mündliche Prüfung ablegen. Es blinkt am Rucksack des in einem Handyshop arbeitenden Mannes, denn Martin hat den Zünder für eine bereits deponierte Bombe in der Tasche und will, dass der Professor ihm eine Stelle im Koran zeigt, die explizit verbietet, Menschen zu töten. „Ich möchte nichts Unerlaubtes tun, ich möchte keine Sünde begehen.“

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Aus dieser Prämisse entspinnt sich ein Film, der sich zwischen exponiertem Paranoia-Modus und gewollter Theaterhaftigkeit zu einem stilistisch subversiven und inhaltlich kontroversen Zweipersonenkammerspiel hochschaukelt. Martin, der Tabletten gegen Schmerzen schluckt und immer wieder von seiner Frau angerufen wird, liest aus jeder Sure das Kriegerische heraus. Der vom Professor beschworenen „Barmherzigkeit“, die über 700-mal im Koran vorkomme, begegnet Martin mit Passagen wie: „Du sollst nicht töten, außer es geschieht aus einem rechtmäßigen Grund.“ Verbunden sind die beiden, wie langsam klar wird, durch einen Terroranschlag, den ein ehemaliger Student des Professors im Jahr zuvor begangen hat.

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Dort, wo es wehtut

„Martin liest den Koran“ ist ein kompromissloser Film, der dorthin geht, wo es wehtut. Dass er dabei sogar gegenüber einem Radikalisierten noch an der Wichtigkeit des Miteinander-Sprechens festhält, macht ihn so schmerzhaft menschlich wie kontrovers. Für ihr Drehbuch, das Fragen zu Möglichkeiten von Versöhnung im größten Hass und zu Ursachen einer Radikalisierung stellt, wurden Michail Lurje und Jurij Saule 2022 mit der Lola für das beste bis dato unverfilmte Drehbuch ausgezeichnet. „Der Sinn verändert sich je nach Situation“, versucht der Professor sein Gegenüber zu beschwichtigen. Martin lese nur, was in seinem Kopf bereits sei.

Ein Stück weit gilt das auch für den Film selbst, der mit den Erwartungen spielt. In „Martin liest den Koran“ verschmelzen Genre und Diskurs zu einem Film, der die produktive Polarisierung provoziert. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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