Fachkräftemangel vs. Abschiebung
Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
Deutschland sucht weltweit händeringend nach Pflegekräften. Derweil schiebt Niedersachsen sozialversicherungspflichtig Beschäftige aus Pflegeheimen ab. Eine Petition dagegen haben bereits Zehntausende unterzeichnet. Das Ministerium spricht von einer misslichen Lage.
Dienstag, 19.11.2024, 11:04 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.11.2024, 11:04 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Angetrieben von der Kontroverse in der Asylpolitik wetteifern Bundesländer um höhere Abschiebezahlen. Regelmäßig melden Landesämter steigende Quoten. Bayern etwa hat im laufenden Jahr seine Abschiebequote um 30 Prozent gesteigert, Sachsen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 90 Personen mehr abgeschoben. Niedersachsen und Hessen zahlen gar ein sogenanntes „Handgeld“, damit Menschen das Land „freiwillig“ verlassen.
Ins Visier der Abschiebebehörden gelangen dabei allerdings auch Menschen, die in Deutschland dringend gebraucht werden, wie ein Fall aus dem niedersächsischen Wilstedt im Landkreis Rotenburg (Wümme) zeigt. Dort drohen zehn kolumbianischen Beschäftigten, Pfleger, Pflegerinnen und eine Reinigungskraft, wegen abgelehnter Asylanträge die Abschiebung.
Das Pflegeheim für demenzkranke Menschen, in dem die Kolumbianerinnen und Kolumbianer beschäftigt sind, steht aufgrund von Personalmangel nach eigenen Angaben vor der Schließung. „Angehörige und Belegschaft haben sich nun zusammengeschlossen und kämpfen für das Bleiberecht der aus Kolumbien stammenden Pflegekräfte und das Zuhause der Patientinnen und Patienten“, teilte die Einrichtung in einer Pressemitteilung mit.
Abschiebung trotz Pflegenotstand
„Es ist absolut unverständlich, warum Menschen, die so gut integriert sind, hier Steuern zahlen und das Sozialsystem stützen, abgeschoben werden sollen“, sagte Heimbetreiber Tino laut Mitteilung. „Wenn diese Pflegekräfte wegfallen, muss ich das Haus zumachen. Es gibt einfach keinen Ersatz – bei dem Pflegenotstand.“
Die Pflegebranche in Niedersachsen steht, ähnlich wie im gesamten Bundesgebiet, nach Einschätzung der Diakonie in Niedersachsen „extrem unter Druck“. Noch im August 2023 hatte Sozialminister Andreas Philippi (SPD) einen Zehn-Punkte-Plan vorgestellt, um diesem Fachkräftemangel zu begegnen. In den kommenden zehn Jahren muss laut Pflegereport der Krankenkasse DAK-Gesundheit landesweit mehr als jede fünfte Pflegekraft (22,1 Prozent) ersetzt werden.
Brief an Politiker und Petition
Um die nun drohende Abschiebung aus Wilstedt zu verhindern, haben die Heimleitung, die Belegschaft sowie Angehörige ein Schreiben an verschiedene Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker verschickt und eine Petition gestartet. Die wurde innerhalb weniger Tage von mehr als 48.000 Menschen unterzeichnet.
Die Petition war am Donnerstag von Angehörigen der Bewohner des Heims gestartet worden. Das Thema treibe viele Menschen um, sagte: „Wir haben in ein Wespennest gestochen.“ Er fordert „mit allem Nachdruck, dass die Abschiebung der betreffenden Pflegekräfte ausgesetzt wird!“ Man werde nicht ruhen, bis die Pflegekräfte eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten.
Asylanträge von Kolumbianern oft abgelehnt
Das niedersächsische Innenministerium verweist darauf, dass ausländische Staatsangehörige, die kein Recht auf Asyl und auch keine andere aufenthaltsrechtliche Bleibeperspektive haben, gesetzlich zur Ausreise verpflichtet sind. Wenn sie nach Ablauf der Frist nicht freiwillig ausreisen, seien die Ausländerbehörden gesetzlich verpflichtet, die Abschiebung einzuleiten.
Bei Asylanträgen von kolumbianischen Staatsangehörigen sei die Anerkennungsquote verschwindend gering. Für kolumbianische Staatsangehörige sei es daher zielführender, sich vom Herkunftsland heraus um einen Aufenthaltstitel im Rahmen der Fachkräfteeinwanderung zu bemühen. „Niedersachsen ist grundsätzlich sehr daran interessiert, ausländische Fachkräfte aufzunehmen, wenn sie auf legalem Wege nach Deutschland kommen“, hieß es. Bedeutet: Abgelehnte Asylbewerber sollen, auch wenn sie in Deutschland dringend gebraucht werden, zunächst ausreisen, aus der Heimat einen Antrag auf Einreise als Fachkraft stellen und – sofern alles gut läuft – wieder einreisen.
Ministerium spricht von misslicher Lage
Im Fall des Heims in Wilstedt sprach der Ministeriumssprecher von einer „äußerst misslichen Lage“. Eine kurzfristige Abschiebung der Beschäftigten sei derzeit nicht geplant. Das Innenministerium stehe im Kontakt mit der örtlich zuständigen Ausländerbehörde, um die rechtlichen Gegebenheiten in den jeweiligen Einzelfällen und mögliche Handlungsoptionen zu klären.
Der Wechsel von einem bisherigen „Asylaufenthalt“ zu einem „Arbeitsaufenthalt“ ist in Deutschland nur unter bestimmten Umständen möglich. Seit November 2023 können Asylbewerber, die vor dem 29. März 2023 eingereist sind und eine Qualifikation sowie ein Jobangebot haben, eine Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft beantragen – wenn sie ihren Asylantrag zurücknehmen. Ob dies eine Möglichkeit für die betroffenen Beschäftigten sein könnte, war zunächst unklar.
Deutschland und Kolumbien planen Migrationspartnerschaft
Parallel zum Fall in Wilstedt verhandelt der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Joachim Stamp (FDP), weltweit mit Staaten Abkommen aus zur Gewinnung von Arbeitskräften aus dem Ausland – zuletzt auch mit Kolumbien. Im September unterzeichneten Stamp und der Vizeaußenminister Kolumbiens, Jorge Rojas Rodriguez, in Berlin eine entsprechende Absichtserklärung.
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums sind in Deutschland etwa 14.000 Menschen aus Kolumbien sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Hinzu kommen 3.500 Studierende sowie etwa 500 Wissenschaftler. In den ersten acht Monaten dieses Jahres stellten 2.462 Menschen aus Kolumbien erstmalig in Deutschland einen Asylantrag. Ob und welche Berufsqualifikationen die Antragssteller mitbringen, wird nicht erfasst. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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