Prof. Heckmann im Gespräch
Migrationspolitik, die von Sicherheitsthemen beherrscht wird, schwächt den Zusammenhalt
Die große Mehrheit der Bevölkerung bejaht Einwanderung, sagt Prof. Friedrich Heckmann im Gespräch. Er betrachtet Migration generationenübergreifend und nicht tagespolitisch. Auch die bei der Integration sei Deutschland erfolgreich. Was er vermisst, ist eine neue Nationenbildung. Darin wirbt er in seinem Buch.
Sonntag, 01.12.2024, 11:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.12.2024, 11:30 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
MiGAZIN: Herr Heckmann, in Ihrem Buch „Einwanderung mit Zukunft. Neue Nationsbildung in Deutschland statt Minderheitengesellschaft“ betonen Sie das Konzept der „neuen Nationsbildung“ als Alternative zur Minderheitengesellschaft. Was genau verstehen Sie darunter, und warum halten Sie es für Deutschland für notwendig?
Friedrich Heckmann: Neue Nationsbildung ist zum einen ein Konzept für eine neues gesellschaftliches „Wir“, das die Menschen mit Migrationsgeschichte, die in Deutschland im Generationenverlauf ihren Lebensmittelpunkt begründet haben, einschließt. Das Buch begründet die gesellschaftliche und nationale Zugehörigkeit dieser Bevölkerungsgruppe auf der Basis eines reformulierten Nationsbegriffs. Es beschreibt zum anderen, was sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Annäherungs- und Zugehörigkeitsprozess bereits abspielt. Es ist notwendig, diese Prozesse bewusst zu machen, vergleichbar mit den Diskussionen um Deutschland als Einwanderungsland.
Sie kritisieren das Modell einer Minderheitengesellschaft. Welche Risiken sehen Sie darin?
Minderheitengesellschaft steht für ein Nebeneinander von ethnischen Gruppen mit Trennlinien in vielen Lebensbereichen und fehlendem Wir-Bewusstsein in Hinsicht auf die Gesamtgesellschaft. Die Befestigung von ethnischen Minderheitenstrukturen stellt per se noch kein gesellschaftliches Problem dar. Gesamtgesellschaftliche Kommunikation und Kooperation zu ermöglichen sowie die politische Loyalität der Minderheitenangehörigen als Staatsbürger zu erreichen und abzusichern stellen jedoch eine permanente Aufgabe dar. Zugleich bergen ethnische Minderheiten-Mehrheitsstrukturen in Krisensituationen die Gefahr, dass soziale, wirtschaftliche und politische Konflikte ethnisiert werden. Zahlreiche historische Erfahrungen haben die Leidenschaftlichkeit und Unmenschlichkeit ethnisierter Konflikte gezeigt.
Inwiefern kann eine „neue Nationsbildung“ den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken, und welche Hürden bestehen Ihrer Meinung nach dabei?
„Neue Nationsbildung heißt, auf der Grundlage eines neuen Nationsbegriffs neue Gruppen in diese Gemeinschaft aufzunehmen.“
Nation steht für Vorstellungen von Gemeinschaft und für wechselseitige Solidarerwartungen. Neue Nationsbildung heißt, auf der Grundlage eines neuen Nationsbegriffs neue Gruppen in diese Gemeinschaft aufzunehmen. Das bedeutet, Deutsche oder Deutscher ist nicht nur, wer von deutschen Eltern abstammt, sondern auch, wer in Deutschland von ausländischen Eltern geboren wurde und wer in Deutschland integriert ist und sich zum Grundgesetz bekennt.
Im gesellschaftlichen Leben sind die verschiedenen Formen von ethnischer, rassistischer und religiöser Diskriminierung die größten Hindernisse, die gesellschaftliche Teilhabe und Identifizierung von Migranten mit Deutschland erschweren. Assimilationszwänge wirken in die gleiche Richtung, wie auch Politiken von Herkunftsländern, die Auswanderer weitere als „ihre“ Bürger zu betrachten und entsprechende Bindungspolitiken zu praktizieren.
Deutschland steht aktuell vor politischen Herausforderungen im Bereich der Migration. Glauben Sie, dass die derzeitigen politischen Ansätze zur Einwanderungspolitik die nötigen Perspektiven für eine „neue Nationsbildung“ bieten?
„Teile der Bevölkerung in Deutschland stehen aktuell unter dem Einfluss populistischer einwandererfeindlichen Politik.“
Teile der Bevölkerung in Deutschland stehen aktuell unter dem Einfluss populistischer einwandererfeindlichen Politik. Ich zeige aber in meinem Buch, dass die große Mehrheit der Bevölkerung Einwanderung bejaht und sich in Jahrzehnten in diese Richtung bewegt hat. Fokussieren wir den Blick nicht auf den aufgeregten und konflikthaften öffentliche Diskurs über Flüchtlings- und Asylpolitik, sondern auf größere, Generationen übergreifende Trends, dann sind systematische Integrationspolitiken auf kommunaler und nationaler Ebene – auf der nationalen Ebene vor allem die Integrationskurse, die Anti-Diskriminierungsgesetzgebung und das neue Staatsangehörigkeitsgesetz – Politiken, die den Prozess neuer Nationsbildung unterstützen. Von herausragender Bedeutung ist auch die Ebene kommunaler Integrationspolitik. Zu Recht sagt man, Integration findet auf der kommunalen Ebene statt. Praktisch alle Kommunen sind heute Träger und Organisatoren von Integrationspolitik, die die Annäherung von Migranten und Einheimischen fördert.
Wie kann Ihrer Meinung nach verhindert werden, dass Einwanderung und Integration in Deutschland weiter polarisiert und von extremen Positionen beeinflusst wird?
„Politiker, die von ‚kleinen Paschas‘ reden, verstehen das nicht als empirische Hypothese, sondern als abwertende und diskriminierende Äußerung, mit der sie bei vorurteilsvollen Menschen ‚punkten‘ wollen.“
Demokratische Positionen und Institutionen müssen gestärkt werden und eine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik muss verhindern, dass in Krisen Verteilungskämpfe zunehmen, in denen ethnische und rassistische Mobilisierung den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Ein stärkeres Engagement der Wirtschaft, die ja vollständig von erfolgter und zukünftiger Migration abhängig ist, sollte über einzelne Plädoyers für eine Willkommenskultur hinausgehen und systematische Formen annehmen. Nicht zu vergessen ist aber die Ebene persönlicher Beziehungen und persönlicher Kommunikation einschließlich der sozialen Medien, auf der es gilt, Ethnozentrismus und Rassismus entgegenzutreten.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn ranghohe Politiker der Mitte von „kleinen Paschas“ reden?
Ich denke schon, ohne dass ich das quantifizieren kann, dass es solche Phänomene in Einwandererfamilien als Ergebnis von Formen patriarchalischer Erziehungspraktiken gibt. Politiker, die von „kleinen Paschas“ reden, verstehen das jedoch nicht als empirische Hypothese, sondern als abwertende und diskriminierende Äußerung, mit der sie bei vorurteilsvollen Menschen „punkten“ wollen.
„Einwanderung, die in sicheren Kontexten verläuft, erhöht die Akzeptanz von Migration und Migranten in der Bevölkerung… Migrationspolitik, die von Sicherheitsthemen beherrscht wird, erreicht aber das Gegenteil.“
Die Migrationsdebatte wird dominiert von Sicherheitsthemen. Wie bewerten Sie diesen politischen Fokus, und welche Folgen hat er Ihrer Meinung nach für das gesellschaftliche Miteinander?
Das ist keine einfache Frage. Einwanderung, die in sicheren Kontexten verläuft, erhöht die Akzeptanz von Migration und Migranten in der Bevölkerung und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Migrationspolitik, die von Sicherheitsthemen beherrscht wird, erreicht aber das Gegenteil.
Der Flüchtlings- und Migrationsdruck nimmt weltweit zu aufgrund zunehmender Konflikte, Armut oder klimatischer Veränderungen. Die Europäische Union reagiert darauf mit Abschottung. Kann diese Politik langfristig aufgehen?
Hierzu zwei Punkte: Zum einen gibt es meines Erachtens keine Lösung des „Migrationsproblems“, sondern nur bessere oder schlechtere Politiken, mit den Herausforderungen von Migration und Integration umzugehen. Die Ursache dafür liegt in der extremen und zunehmenden Ungleichheit in der Welt und der Revolution der Kommunikation, die dazu geführt hat, dass weltweit sich ähnliche Vorstellungen von einem guten und sicheren Leben herausgebildet haben.
Zum anderen: Da Integration auch und zentral eine Ressourcenfrage ist, und zwar materieller wie psychisch-sozialer, und Ressourcen knapp sind, hilft es dem gesellschaftlichen Frieden, wenn Migration kontrolliert und begrenzt verläuft. Das ist aber, wenn man nicht mit Mauer und Schießbefehl reagieren will, nur in eingeschränktem Maße möglich. Der Bevölkerung vorzuspielen, man habe solche Instrumente, ist Symbolpolitik, die aber zu Frustrationen führt und zur Bereitschaft, auf extremistische, rechtsradikale Akteure zu hören.
In den 60‘ern bis 80‘ern erlag Deutschland dem Irrtum, die sogenannten „Gastarbeiter“ würden irgendwann wieder zurückkehren. Einem ähnlichen Irrtum unterlag man auch nach dem Jugoslawienkrieg. Vor knapp zehn Jahren ging man abermals irrtümlich davon aus, die Menschen aus Syrien würden wieder zurückkehren. Bei Ukrainerinnen und Ukrainern legt man erstmals den Fokus auf eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Hat Deutschland gelernt aus seiner Migrationsgeschichte – oder ist das nicht vergleichbar?
„Deutschland hat auf jeden Fall aus seiner Migrationsgeschichte gelernt, dass es ein Einwanderungsland ist, zahlreiche Institutionen neu geschaffen oder angepasst und ist insgesamt erfolgreich bei der Integration von Einwanderern.“
Deutschland hat auf jeden Fall aus seiner Migrationsgeschichte gelernt, dass es ein Einwanderungsland ist, zahlreiche Institutionen neu geschaffen oder angepasst und ist insgesamt erfolgreich bei der Integration von Einwanderern. Was das Kommen und Gehen angeht muss man beachten, dass es in praktisch allen Einwanderungsprozessen ein bestimmtes, aber zwischen den Ländern unterschiedliches Maß an Rückwanderung gibt. Nicht alle im Land befindlichen Ausländer sind auch Einwanderer oder potentielle Einwanderer, die Wanderungsbilanz zeigt, dass es ein ständiges großes Kommen und Gehen gibt. Nur ein Teil der Zuwanderer wird zu Einwanderern und das hängt von unterschiedlichen individuellen und kontextuellen Bedingungen ab. Die Mehrheit der sogenannten Gastarbeiter, an deren Beispiel wir viel gelernt haben, ist nicht geblieben und nicht zu Einwanderern geworden, die Mehrheit ist zurückgekehrt.
Für mein Thema der neuen Nationsbildung heißt das auch, dass sich Prozesse neuer Nationsbildung nicht auf alle im Land befindlichen Ausländer beziehen, sondern auf diejenigen Personen, die nach längerem Aufenthalt und erfolgreicher Integration oder im Generationenverlauf ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden haben. Aktuell Gesellschaft Interview
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