Brandmuster
From Grenfell to Apolda
In London bricht nach einem Wohnhaus-Brand eine Debatte über strukturellen Rassismus aus. Bei einem Brand in einem Flüchtlingsheim in Apolda bleibt die Kritik aus. Ein Vergleich
Von Joel Schülin Montag, 02.12.2024, 11:05 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.12.2024, 13:16 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Es ist der 14. Juni 2017, 00:54 am Morgen.
Flammen breiten sich in rasender Geschwindigkeit im 24-stöckigen Grenfell Tower in Kensington, West London, aus. Die Gänge sind verraucht, die Sicht aus dem Fenster wird durch das peitschende Rot und Orange der Flammen versperrt. Der einzige Ausweg ist die Flucht über das Treppenhaus.
Das Feuer breitet sich in Sekundenschnelle über die Fassadenbekleidung aus. Die Bekleidung, Fassadenplatten aus einem 3mm-dicken Polyethylen-Kern ummantelt von Aluminium, wurden im Rahmen von Renovierungsarbeiten 2016 angebracht und wirken in dieser Nacht wie Brandbeschleuniger.
Um 04:30 umschließt das Feuer endgültig das ganze Gebäude.
Naila El Guenuni, 12 Jahre alt, erzählt in einem Interview mit Channel 4 mit stoischer Ruhe, wie sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus ihrer Wohnung im 18. Geschoss fliehen kann. 72 Menschen sterben bei dem Brand, hauptsächlich nicht weiße Menschen.
„Als das Brandgutachten einen technischen Defekt als Ursache für das Feuer ausmacht, atmet die Politik auf. Kein Anschlag von rechts heißt auch, keine Erklärungsnot für den immerwährenden deutschen Rechtsradikalismus.“
Ein Brandschutzgutachten stellt wenig später fest, dass ein technischer Defekt an einem Kühlschrank einen Kabelbrand in einer Wohnung im vierten Geschoss auslöste. Die wiederkehrende Kritik durch Bewohnende und Organisationen über den mangelhaften Brandschutz in dem Gebäude, die schon lange vor dem Brand präsent war, stößt bei der Stadtverwaltung auf taube Ohren.
Grenfell steht nicht nur für die Missachtung von Brandschutzmängeln und gegenseitigen Schuldzusprechungen von Unternehmen, die an der Renovierung beteiligt waren. Es wirft auch die Frage rassifizierter Gewalt gegenüber nicht weiß gelesenen Menschen auf, die hauptsächlich in den Sozialwohnungen des Hochhauses lebten.
Aber was macht Apolda in dieser Gleichung?
Sechs Jahre später bricht in den Morgenstunden des 4. Juni 2023 ein Feuer in einer Geflüchtetenunterkunft im thüringischen Apolda aus. 11 Menschen werden verletzt, eine Person stirbt. Die verstorbene Person ist ein ukrainischer Junge, 9 Jahre alt. Als das Brandgutachten einen technischen Defekt als Ursache für das Feuer ausmacht, atmet die Politik auf. Kein Anschlag von rechts heißt auch, keine Erklärungsnot für den immerwährenden deutschen Rechtsradikalismus.
Der Junge verschwindet aus der Medienlandschaft mit derselben Geschwindigkeit, mit der er sie betreten hat. Kein weiterer Artikel beschäftigt sich mit der eigentlichen Implikation dieses Brandes. In einem medialen Echoraum werden immer wieder die gleichen Schlagwörter ausgetauscht. Keine Medieninstitution, von FAZ über taz, schaut über die Fakten hinaus.
Legen wir die Fakten einmal auf den Seziertisch. Ein Junge stirbt in einer Geflüchtetenunterkunft. Das System von Geflüchtetenunterkünften ist staatlich organisiert. Geflüchtete werden je nach Verfügbarkeit in Sammelunterkünften oder Wohnungen untergebracht. Mitspracherecht bei der Wahl des Wohnortes hat eine asylsuchende Person meist nicht.
„Alleine in den Jahren 2023 und 2024 kam es in Deutschland zu 14 Brandvorfällen durch technische Defekte.“
Aufgrund fehlender Ressourcen und lokaler Austerität sind Kommunen oft gezwungen Sondertypologien, wie Schulen oder Vereinsheime zu renovieren. Typologien, die nicht für die Wohnnutzung erbaut wurden.
Was bedeutet es also, wenn eine geflüchtete Person, immobilisiert in einem Gebäude, das vom Staat bzw. der Kommune zugewiesen wurde, in einem Feuer erstickt, das durch fehlerhafte Technik entstanden ist, die bei der Renovierung durch Unternehmen installiert wurde, die von der Kommune beauftragt wurde?
Der Fall Grenfell verdeutlicht im Kontext von Apolda, dass die Frage der Verantwortung weitaus komplexer ist als die oberflächliche Zuschreibung in Täter:in und Opfer. Wie in einem Sammelband über den Grenfell Brand prägnant formuliert wird, handelt es sich bei dem Großbrand 2017 nicht um einen bedauerlichen Einzelvorfall, sondern eine vorhersehbare Folge verschiedener Formen von Vernachlässigung, Gewalt und struktureller Ungleichheit.
Es ist vorhersehbar. Alleine in den Jahren 2023 und 2024 kam es in Deutschland zu 14 Brandvorfällen durch technische Defekte. Mit dem, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels, aktuellsten Brand in Osnabrück Mitte November.
Auch wenn Apolda eine der dramatischsten Ausprägungen von, nennen wir es, strukturellen Bränden darstellt, sind Brände durch technische Defekte ein immer wiederkehrendes Phänomen in Geflüchtetenunterkünften. Doch niemand spricht darüber, obwohl immer wieder Menschenleben gefährdet werden. Und das in einem Raum, aus der durch staatliche Regulierungen der Immobilisierung keine „Flucht“ möglich ist.
„Brände durch technische Defekte, ein immer wiederkehrendes Phänomen in Geflüchtetenunterkünften. Doch niemand spricht darüber.“
Zündet eine rechtsradikale Person mal wieder eine Geflüchtetenunterkunft oder das Haus oder Auto einer Politikerin bzw. eines Politikers an, übertreffen sich Journalist:innen und Politiker:innen gegenseitig mit Aufschreien der Empörung und der Distanzierung durch Unverständnis (Rechtsradikalismus in Deutschland, wie konnte das denn passieren?).
Löst ein defektes Kabel einen Brand aus, bleibt jegliche Kritik aus. Könnte es sein, dass es Deutschlands medialer und politischer Öffentlichkeit mehr um das eigene, moralisch integre Image geht, als um das Wohlbefinden nicht weißer migrantisierter Menschen, die im Asylprozess prekarisiert und anonymisiert werden?
So wie Grenfell sollte sich auch Apolda als Präzedenzfall für die indirekten Folgen der staatlichen Vernachlässigungspolitik von nicht weiß bzw. nicht deutsch gelesenen Menschen manifestieren, um auch die Frage der Verantwortung neu auszudefinieren. Meinung
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