Der Fall Prof. Dr. Kenan Engin
Diskriminierung an deutschen Hochschulen kein Einzelfall
Der Fall des von der Berliner Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften entlassenen Prof. Dr. Kenan Engin zieht weite Kreise. Es zeigt sich immer mehr: Es gibt viele Betroffene und nur wenige, die darüber sprechen.
Von Erkan Pehlivan Dienstag, 03.12.2024, 10:06 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 03.12.2024, 8:42 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Entlassung von Prof. Dr. Kenan Engin von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin hat Kritik auf sich gezogen und Empörung hervorgerufen. Nach Bekanntwerden seines Falls meldeten sich ehemalige Angestellte der Hochschule, um über Diskriminierung von Lehrpersonal zu sprechen. Die Situation sei für sie nicht mehr tragbar gewesen, sodass sie sich neue Jobs gesucht hätten. Sie alle eint, dass sie ihre Identität nicht preisgeben wollen. Die Formen der erfahrenen Diskriminierung unterscheiden sich jedoch. Mal sei es der ethnische Hintergrund, ein anderes Mal eine Behinderung, die Hautfarbe oder das Geschlecht gewesen. In den meisten Fällen, so berichten Betroffene, liegt intersektionale Diskriminierung, also eine Überschneidung verschiedener Merkmale, vor.
Die Akkon-Hochschule, die zum Wohlfahrtsverband Johanniter gehört, weist die Vorwürfe zurück. Auf ihrer Internetseite heißt es: „Wir stellen allerdings ausdrücklich klar, dass die öffentlich erhobenen Vorwürfe gegen die Hochschule jeder Grundlage entbehren.“ Auf Anfrage teilt die Hochschule mit, sie setze sich „aufgrund unserer humanwissenschaftlichen Ausrichtung und unseres Leitbildes für die Werte der Weltoffenheit und der Chancengleichheit aller Menschen ein – unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung, ihrem Alter oder einer möglichen Behinderung“. Weiter heißt es: „Es gab und gibt keine Fälle von Diskriminierung und/oder Bullying von und an Lehrenden.“
Gazal S. (Name geändert), eine Studierende an der Hochschule, lacht darüber. „Niemals, ich habe mehrfach die Unileitung angeschrieben und mich auch über einen Mitarbeiter beschwert. Nichts ist geschehen. Es wurde gar nicht ernst genommen.“ Gazal erzählt, wie sie diskriminiert wurde, bittet die Redaktion jedoch, keine Details zu veröffentlichen, um nicht identifiziert zu werden. Nach Beendigung ihres Studiums könne ihr Fall gerne publik gemacht werden. Dann wolle sie sich auch bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes melden.
Druck auf Hochschule wächst
Der Druck auf die Hochschule wächst derweil: Die Solidarität mit dem geschassten Professor ist seit dem Beitrag im MiGAZIN gewachsen. Über 1.300 Personen, davon überwiegend Wissenschaftler:innen an Universitäten, fordern die Rücknahme der Maßnahmen gegen ihren Kollegen. Zuvor hatten sich Studierende in einer Petition solidarisch mit Engin gezeigt. Auch die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) stellte sich solidarisch hinter den Hochschullehrer.
Der Fall beschäftigt inzwischen auch die Politik. „Es ist entscheidend, dass der Bundesvorstand der Johanniter diese öffentliche Kritik sowie Besorgnisse ernst nimmt“, schreibt die Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (Die Linke) in einem Brief an den Bundesvorstand der Johanniter, der dem MiGAZIN vorliegt. Akbulut legt die Einsetzung einer unabhängigen Kommission nahe, um die Vorfälle objektiv und transparent aufzuarbeiten. Auf Fragen verweist die Johanniter an die Hochschule.
Diese teilt mit, sie habe inzwischen eine auf Compliance-Fragen spezialisierte Kanzlei mit einer unabhängigen Evaluierung der Prozesse und Strukturen beauftragt. Wie Engin dem MiGAZIN mitteilt, hat die Kanzlei mit ihm jedoch nicht gesprochen. Die Hochschule lasse keine Einsicht erkennen: vor Gericht am 25.10.2024 habe sie von Engin eine Erklärung gefordert, in der er sich von den Vorwürfen distanzieren solle. Dann könne man auch über eine Lösung reden. Engin bleibt jedoch bei seiner Haltung: „So eine Erklärung wird es nie geben!“
Engin kein Einzelfall
Recherchen des MiGAZIN zeigen, dass Diskriminierung an Hochschulen kein Einzelfall ist. Mehrere Wissenschaftler:innen an anderen Hochschulen wandten sich seit Bekanntwerden des Falls von Professor Engin an das MiGAZIN und berichteten von ähnlichen Erfahrungen: Diskriminierung und Bullying – auch sie bleiben anonym.
Die Diversitäts- und Antidiskriminierungsexpertin Bontu Lucie Guschke schreibt in einem Fachartikel, Hochschulen würden oft als „meritokratische, faire und gesellschaftskritische Orte dargestellt, an denen Entscheidungen anhand objektiver Exzellenzkriterien getroffen werden“. Die Wissenschaftlerin räumt mit dem Mythos auf, dass Universitäten diskriminierungsfreie Räume seien. Die Expertin verweist auf eine Studie an 46 Universitäten und Forschungsinstitutionen in 15 europäischen Ländern. Demnach erleben 62 Prozent der Beschäftigten an Universitäten geschlechtsspezifische Gewalt, unter ethnisch marginalisierten Beschäftigten seien es sogar 69 Prozent. Guschke deckt auf, dass sexistische und rassistische Diskriminierung keine Ausnahmen oder ‚bedauerliche Fehler‘ im Universitätssystem sind. „Die Art und Weise, wie Universitäten organisiert sind, ermöglicht, bestärkt und normalisiert die kontinuierliche Reproduktion von Sexismus und Rassismus sowohl auf institutionell-struktureller als auch interaktionell-individueller Ebene“, heißt es.
Das deckt sich mit unserer Recherche: Studierende und Wissenschaftler:innen sind müde und wählen den Weg des Schweigens – aus Angst vor Repression oder einfach aus Scham darüber, sich nicht gegen Diskriminierung und Bullying gewehrt zu haben.
Auch Sophia Hohmann, Vorstandsmitglied im „Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft“, sieht strukturelle Diskriminierung an deutschen Hochschulen und mahnt zu Gegenmaßnahmen: „Es braucht dringend von den Hochschulen unabhängige Anlaufstellen für Betroffene aller Statusgruppen.“ Die Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen sei oft nur als Projekt angelegt, was auch wieder eine problematische Struktur darstelle. Diskriminierungen müssten angemessen sanktioniert werden. Sie dürften nicht nur als Einzelfall und individuelles Fehlverhalten betrachtet werden, sondern in ihrer strukturellen Dimension. Strukturen müssten geändert werden, „dass Diskriminierung weniger wahrscheinlich wird“, sagt Hohmann im Gespräch. Engin sei kein Einzelfall, „denn Personen, die sich an Hochschulen für Antidiskriminierung engagieren, werden vielfach selbst diskriminiert, ausgegrenzt und/oder bedroht.“ (mig) Aktuell Panorama
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