Debatte über Rückkehr
Bamf verhängt Entscheidungsstopp für Asylverfahren von Syrern
Nach dem plötzlichen Sturz von Baschar al-Assad in Syrien ist die Lage unübersichtlich. Dennoch ist in Deutschland eine Debatte über Rückführung syrischer Geflüchteter entfacht. Experten warnen eindringlich vor voreiligen Forderungen. Eine unmittelbare Folge hat das Geschehen in Syrien dennoch.
Montag, 09.12.2024, 16:49 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 09.12.2024, 16:54 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
In Deutschland hat unmittelbar nach dem Sturz des Regimes in Syrien eine Debatte über die Rückführung syrischer Flüchtlinge eingesetzt. Politiker, Experten und Menschenrechtler meldeten sich zu Wort. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mahnte am Montag Geduld an. Viele syrische Flüchtlinge in Deutschland hätten nun wieder eine Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat, sagte die SPD-Politikerin in Berlin. Doch seien angesichts der unübersichtlichen Lage in Syrien „konkrete Rückkehrmöglichkeiten im Moment noch nicht vorhersehbar und es wäre unseriös, in einer so volatilen Lage darüber zu spekulieren“, sagte Faeser.
Eine handfeste Konsequenz aus der neuen Lage in Syrien gibt es dennoch: Die Innenministerin bestätigte, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) einen Entscheidungsstopp für aktuell noch laufende Asylverfahren verhängt habe, bis die Lage klarer sei. Es gehe um knapp 47.000 Asylanträge. Der stellvertretenden Sprecherin des Innenministeriums, Sonja Kock, zufolge leben knapp eine Million Syrer in Deutschland, die Mehrzahl als international anerkannte Flüchtlinge oder Bürgerkriegsflüchtlinge. Rechtlich sei es möglich, ihren Schutzstatus in Deutschland zu widerrufen. Doch dafür sei wesentlich, ob sich die Lage in Syrien dauerhaft geändert und stabilisiert habe. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es eine „ziemliche hypothetische Frage“, ob die syrischen Geflüchteten zurückkehren müssten.
Der Sprecher des Außenministeriums, Sebastian Fischer, kündigte ein neues Lagebild für Syrien an, wenn man mehr über die Entwicklung sagen könne. Für Fragen des Asylrechts und Flüchtlingsschutzes sei entscheidend, ob künftige Entscheidungsträger den Schutz aller Minderheiten garantieren, sagte Fischer.
Unionspolitiker fordern Rückreisen von Syrern
Für die Union forderte der parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Torsten Frei (CDU), das Bamf solle sich rasch auf die Überprüfung der den syrischen Flüchtlingen zugesprochenen Schutztitel vorbereiten. Wenn Syrien sich zu einem Land entwickle, in dem weder politische Verfolgung noch eine individuelle Gefahr drohe, müsste das Konsequenzen haben für die Anerkennungspraxis in Deutschland, sagte Frei der „Augsburger Allgemeinen“.
CSU-Chef Markus Söder rechnet mit deutlich mehr freiwilligen Rückkehren von Syrern aus Deutschland in das Heimatland. „Der Grund, Syrien zu verlassen, war vor allem Assad. Deswegen wird es viele Menschen geben, die jetzt einfach in ihre Heimat zurückwollen“, sagte der bayerische Ministerpräsident nach einer Sitzung des CSU-Vorstands in München. Söder betonte, es müsse „sogar überlegt werden, wie eine stärkere Rückführung in die syrische Heimat vieler Menschen möglich ist.“ Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) betonte, dass Deutschland die reisewilligen Syrer unterstützen solle: „Wir sollten auch überlegen, sie dabei finanziell zu unterstützen“, sagte er auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Sollte nun in Syrien tatsächlich Stabilität und Humanität einkehren, gebe es keinen Grund mehr für einen generellen Abschiebungsstopp.
Grüne und Linke kritisieren Debatte
Demgegenüber warnte der Europapolitiker der Grünen, Anton Hofreiter, davor, nach dem Sturz des Assad-Regimes syrische Flüchtlinge unter Druck zu setzen. „Überlegungen, nach dem Sturz von Assad unsere Migrationspolitik zu verändern und härter gegen syrische Geflüchtete vorzugehen, sind völlig fehl am Platz“, sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Auch Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt hat die Diskussionen kritisiert. „Ich finde das nach anderthalb Tagen eine unangemessene innenpolitische Debatte“, sagte die Grünen-Politikerin dem rbb-Inforadio.
Deutlicher äußerte sich der Linken-Vorsitzende Jan van Aken am Montag in einer Pressekonferenz in Berlin: „Alle, die jetzt anfangen, über Abschiebungen nach Syrien zu reden, sind einfach nur, und entschuldigen Sie die Wortwahl, das sind einfach nur verkommene Drecksäcke.“ Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, bezeichnete die Forderungen als „völlig deplatziert“ Sie offenbarten „nur die wahren Interessen derer, die sie erheben: Ihnen geht es nicht um Freiheit und Gerechtigkeit für die Menschen in Syrien, sondern allein um ihren rechten Fiebertraum, Hunderttausende zu deportieren“.
EU-Kommission empfiehlt keine Rückkehr nach Syrien
Auch die EU-Kommission warnt vor allzu großen Hoffnungen auf schnelle und unproblematische Rückkehrmöglichkeiten für Flüchtlinge nach Syrien. Die Bedingungen für eine sichere und würdevolle Rückkehr seien nach derzeitiger Einschätzung momentan nicht gegeben, sagte ein Sprecher in Brüssel. Mit dieser Linie sei man sich einig mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). Die aktuelle Lage sei von großer Hoffnung, aber auch von großer Unsicherheit geprägt. Es werde an jedem Einzelnen und an jeder Familie sein, zu entscheiden, was sie tun möchte. Der Sprecher machte damit auch deutlich, dass es aus Sicht der Kommission bis auf weiteres keine Abschiebungen geben sollte.
Ähnlich äußerte sich das Deutsche Institut für Menschenrechte. Direktorin Beate Rudolf sagte, die Debatte um die Rückkehr syrischer Flüchtlinge komme zu früh. Die Situation sei viel zu unklar, um Schlussfolgerungen daraus zu ziehen für Menschen, die in Deutschland Schutz erhalten haben, sagte Rudolf. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) warnte ebenfalls vor „vorschnellen Aufrufen zur Rückkehr von Geflüchteten“. Zwar freuten sich viele Menschen über den Sturz Assads, doch die Lage sei von großer Unsicherheit geprägt, viele Syrer blickten weiterhin mit Sorge in die Zukunft.
Dem Migrationsforscher Gerald Knaus zufolge könnte der Sturz des Assad-Regimes einen Wendepunkt für die Flüchtlingssituation in Europa herbeiführen. Höchste Priorität müsse es haben, zusammen mit den Nachbarländern für Stabilität zu sorgen, sagte Knaus. Wer eine sofortige Massenrückkehr nach Syrien verspreche, handele populistisch.
Deutsch-Syrer zwischen Aufbruchstimmung und Vorsicht
Unter Deutsch-Syrern und Syrern in Deutschland hat der Sturz von Assad große Begeisterung ausgelöst. „Wir empfinden unbeschreibliche Freude“, sagte die Vorsitzende des Verbands Deutsch-Syrischer Hilfsvereine, die Rüsselsheimer Rechtsanwältin Nahla Osman, am Montag dem „Evangelischen Pressedienst“. „Wir glauben, wir sind in einem Traum.“ Es gebe aber auch Zweifel und Angst. Dem säkularen Verband gehören 42 Mitgliedsvereine verschiedener Ausrichtungen an.
Der Machtwechsel in Syrien sei erstaunlich friedlich verlaufen, sagte Osman. Von ihren engen Kontakten nach Aleppo wisse sie, dass dort kaum Schüsse gefallen seien. „Die Machtübergabe ging ganz schnell, plötzlich waren alle gegen Assad.“ Selbst ein Verwandter im Amt eines Ministers habe gesagt: „Endlich sind wir frei.“ Zwar gebe es auch Angst in der Umbruchsituation, aber die Minderheiten würden bisher in Frieden gelassen: „Die Christen in Aleppo konnten Weihnachtsbäume aufstellen und feiern Gottesdienste“, sagte Osman.
Syrer in Deutschland schwankten derzeit zwischen Aufbruchstimmung und Vorsicht. „Die Sehnsucht nach dem Heimatland ist groß.“ Aber abgesehen von der Frage, ob die Sicherheit im Land gewährleistet ist, gebe es praktische Probleme für eine Rückkehr. Die meisten Deutsch-Syrer sagten, sie wollten nach Syrien reisen, wenn es dort sicher sei, auch wenn zunächst nur auf einen Verwandtenbesuch und um nach dem Heim zu schauen.
Experte: Arbeitsmarkt würde Heimkehr von Syrern verkraften
Eine mögliche Rückkehr von Syrern ist nach Einschätzung des Arbeitsmarktforschers Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg verkraftbar. Derzeit sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 222.610 Menschen mit syrischer Staatsangehörigkeit in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Hinzu kommen noch einmal rund 65.000 Minijobber. Damit liege der Anteil der Syrer an den Gesamtbeschäftigten in fast allen Berufsgruppen bei unter einem Prozent, sagte Weber.
Rund 44 Prozent der syrischen Arbeitskräfte sind ungelernte oder angelernte Helfer – mehr als die Hälfte haben eine Facharbeiterqualifikation oder sogar einen höheren Ausbildungsstand. Allein rund 5.000 Mediziner aus dem Land arbeiten dem IAB zufolge in Deutschland.
Vor dem Bürgerkrieg in Syrien, der 2011 mit einem Volksaufstand gegen das Regime von Machthaber Baschar al-Assad begonnen hatte, waren Hunderttausende Syrer nach Deutschland geflohen. Nach 13 Jahren Bürgerkrieg übernahm nun eine Rebellenkoalition unter Führung der Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) die Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus. Der entmachtete Assad flüchtete nach Moskau, wo er Medienberichten zufolge laut Kreml politisches Asyl erhalten soll. (epd/dpa/mig) Leitartikel Panorama
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