Weltsicht
Syrien nach Assad: große Heimkehr oder neue Flucht?
Kaum ist Assad weg, denken manche Politiker schon laut über die Rückkehr von Syrern nach, statt sich mit ihnen zu freuen – ein viel zu früher und naiver Wunsch – ob es gefällt oder nicht.
Von Benjamin Schraven Dienstag, 10.12.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 09.12.2024, 19:09 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Herrschaft des Assad-Clans über Syrien hat sein abruptes Ende gefunden: Wie aus dem Nichts starteten erst vor wenigen Tagen verschiedene bewaffnete Gruppen eine Großoffensive gegen den syrischen Langzeitmachthaber Bashar al-Assad und überrannten seine Streitkräfte förmlich. Einige Menschen wie der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Unionsparteien im Bundestag, Jens Spahn, denken schon sehr lautstark über die Rückkehr von syrischen Geflüchteten in ihr Herkunftsland nach.
Andere stellen sich in Anbetracht der unsicheren Situation in Syrien eher die Frage, ob es schon bald wieder neue Flüchtlingsbewegungen aus Syrien in Richtung Europa geben wird. Bevor das eine oder das andere überhaupt diskutiert werden kann, sollten wir alle vielleicht erst mal tief durchatmen.
Zu viele offene Fragen
Sowohl die Frage, ob es neue Flucht und Vertreibung in Syrien geben könnte als auch die Frage, ob viele syrisch-stämmige Menschen nun aus Deutschland, der Türkei oder vielen anderen Ländern in ihr Herkunftsland zurückkehren werden, hängt maßgeblich von einer anderen Frage ab: Werden die Sicherheits- und Teilhabeinteressen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nach dem Sturz Assads berücksichtigt? Und vor allem: Kann neue Unterdrückung oder Gewalt gegenüber einzelnen Bevölkerungsgruppen nicht nur kurz-, sondern auch langfristig verhindert werden? Die Erinnerungen an die Gräueltaten des Assad-Regimes und die des IS sind in Syrien allgegenwärtig.
Zu diesem Zeitpunkt lässt sich dazu allerdings noch kaum etwas sagen, denn viele andere wichtige Fragen sind noch nicht einmal im Ansatz beantwortet: Wie kann und wird eine neue syrische Regierung überhaupt aussehen? Auf welche generellen politischen und gesellschaftlichen Strukturen könnte man sich einigen? Können die unterschiedlichen Gruppierungen, die im syrischen Konflikt involviert waren, überhaupt einen gemeinsamen Kurs finden oder kommt es nicht schnell wieder zu neuer Gewalt entlang von religiösen, ethnischen oder anderweitig definierten Konfliktlinien?
Lesetipp: „Klimamigration“: Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht, von Benjamin Schraven, erschienen am 3.7.23 im bei transcript, Taschenbuch, 176 Seiten, ISBN-13: 978-3837665475.
Grund für zumindest sehr vorsichtigem Optimismus gibt es durchaus: Die wohl wichtigste Anti-Assad-Gruppierung Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), die aus dem al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front hervorgegangen ist, hat zuletzt eine Schlüsselrolle bei der Offensive gegen Assad gespielt. Die HTS wird zwar als „islamistische“ Gruppierung eingestuft, die Gruppe und vor allem ihr Chef Abu Mohammad al-Julani geben sich aber in der Öffentlichkeit sehr gemäßigt und sprechen von Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten wie Christen und Aleviten und betonen zudem die Einheit der syrischen Gesellschaft. Ob diese Versprechen zukünftig eingehalten werden, bleibt abzuwarten.
Der Einfluss der anderen
Auf der anderen Seite wäre es naiv, so zu tun, als wäre es eine rein innersyrische Angelegenheit, eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung für das Land in der Levante festzulegen. Diese neue Ordnung muss auch den Interessen der einflussreichen externen Konfliktparteien wie den USA oder der Türkei gerecht werden.
Vor allem die Türkei steht nun als zentraler Player in Syrien da – und das nicht nur in Bezug auf die kurdischen Gebiete im Norden und Nordosten Syriens. Ankara hat in der Vergangenheit selbst militärisch in Syrien interveniert und ist ein maßgeblicher Unterstützer bzw. Initiator der Syrischen National-Armee (SNA), einer der größten „Rebellengruppen“ im syrischen Konflikt. Es ist anzunehmen, dass die jüngste Großoffensive gegen Assad zumindest mit Zustimmung des türkischen Präsidenten Erdoğan durchgeführt wurde oder eng mit ihm abgestimmt war.
Die Türkei wird nun eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung in Syrien spielen und somit die Frage mitbestimmen, ob mit weiteren Flüchtlingsbewegungen aus Syrien zu rechnen ist. Selbstverständlich verfolgt die Türkei dabei ihre eigenen sicherheitspolitischen, geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen. Diese Interessen umfassen eine Eindämmung der kurdischen Selbstverwaltung, eine baldige Rückkehr der syrischen Geflüchteten aus der Türkei in ihre alte Heimat sowie wie eine angemessene Beteiligung der Türkei am wirtschaftlichen Wiederaufbau Syriens.
Große Sorgen, kleiner Einfluss
Das mag Vielen in Europa nicht gefallen. Tatsache ist aber, dass die Europäische Union und ihre großen Mitgliedsländer wie Deutschland und Frankreich bei der „syrischen Frage“ dort stehen, wo die Assad-Unterstützer Iran und Russland nun auch eher zu finden sind: außen vor.
Die Europäer machen sich zwar mal wieder Sorgen wegen Flucht und Migration im Zusammenhang mit Syrien, ihnen fehlen aber bedeutende Einflussmöglichkeiten auf die zukünftige Gestaltung des Landes – zu inkohärent und zögerlich wirkte das europäische Gebaren hier lange. Vielleicht sollten Herr Spahn und viele andere politische Köpfe in Berlin, Brüssel oder Paris zunächst einmal darüber nachdenken.
Und vielleicht sollten wir uns alle erst einmal mit den Syrerinnen und Syrern freuen, dass das schreckliche Assad-Regime, welches millionenfaches Leid ausgelöst hat, nun endlich der Vergangenheit angehört. Über Migration werden wir dann noch früh genug wieder reden. Meinung
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