Abschiebedebatte
Ministerin rät Syrern von Heimreisen ab: können Schutzstatus verlieren
Viele Syrer können seit vielen Jahren erstmals wieder ihre Familien in der Heimat besuchen. Integrationsministerin Binz mahnt zur Vorsicht. Das könne zum Verlust des Schutzstatus führen. Kanzler Scholz und Außenministerin Baerbock rechnen ohnehin nicht mit vielen Rückkehrern.
Mittwoch, 11.12.2024, 15:42 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.12.2024, 16:40 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die Bundesregierung bemüht sich weiterhin, die Debatte um eine schnelle Rückkehr syrischer Geflüchteter aus Deutschland in deren Heimat zu beenden. Noch gebe es in dem Land eine „sehr, sehr gefährliche Situation“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte, es sei vollkommen unklar, wie die Zukunft Syriens nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad durch die Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) aussehen wird. Die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Katharina Binz riet syrischen Flüchtlingen sogar von einer Reise in ihre Heimat ab.
Wegen des Bürgerkriegs in Syrien, der 2011 mit einem Volksaufstand gegen das Assad-Regime begonnen hatte, waren Hunderttausende aus dem Land nach Deutschland geflohen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums leben knapp eine Million aus Syrien stammende Menschen in Deutschland.
Scholz sagte am Dienstagabend in den ARD-„Tagesthemen“, Deutschland müsse zusammen mit anderen Staaten alles dafür tun, dass ein demokratisch geführtes Land entsteht, in dem Menschen unterschiedlicher Religionen gut zusammenleben können. „Vielleicht, wenn es gut geht, werden ja viele von sich aus sagen, dass sie am Wiederaufbau ihres Landes mit teilhaben wollen“, sagte der Bundeskanzler Olaf Scholz.
Baerbock: „Moment der Hoffnung“
Baerbock sprach am Mittwoch in Berlin von einem „Moment der Hoffnung“ nach dem Sturz Assads. Doch die Situation sei alles andere als stabil. Es gebe weiter Kämpfe sowie Angst und Sorgen, dass die Hoffnung trügen könne.
Zur Debatte um den Umgang mit syrischen Flüchtlingen in Deutschland sagte die Außenministerin, manche Aussagen seien schon „befremdlich“. Die gleichen Stimmen, die vor einigen Wochen noch eine Normalisierung der Beziehung zum Assad-Regime mit dem Ziel von Abschiebungen gefordert hätten, verlangten nun eine schnelle Rückkehr von Syrern nach dem Sturz des Regimes. Hier sei der „Realitätssinn“ nicht sehr ausgeprägt.
Faeser warnt vor Folgen für Arbeitsmarkt
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat in der Debatte über Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt gewarnt. „Es würden ganze Bereiche im Gesundheitssektor wegfallen, wenn jetzt alle Syrer, die hier arbeiten, unser Land verlassen würden“, sagte die SPD-Politikerin nach einer Sitzung des Bundeskabinetts in Berlin.
„Für uns ist wichtig, dass wir den Syrern, die hier sind, die einen Arbeitsplatz haben, die sich integriert haben, die frei von Straftaten sind, wo die Kinder in die Schule gehen, dass wir denen auch das Angebot unterbreiten, hier zu bleiben und für unsere Wirtschaft da zu sein“, so die Ministerin.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte sich ähnlich wie Faeser geäußert. In Deutschland arbeiteten derzeit mehr als 6.000 Ärzte aus Syrien, die voll integriert und für die Versorgung unabkömmlich seien, schrieb er auf der Plattform X.
Verdi warnt vor Syrien-Rückführungen in großem Stil
Auch die Gewerkschaft Verdi warnte vor Rückführungen von Syrern aus Deutschland in großem Stil. Verdi-Chef Frank Werneke sagte in einem Videointerview der „Deutschen Presse-Agentur“, große Rückführungen seien „gegen die Interessen der Menschen und übrigens auch gegen die Interessen der Arbeitswelt, zumindest in Teilen in Deutschland“.
Er rate „sehr dazu, dass mit einem kühlen Kopf an die Situation herangegangen wird“, sagte der Verdi-Vorsitzende. „Viele sind hier auf dem Arbeitsmarkt integriert und etabliert und auch wichtig für uns.“ Syrerinnen und Syrer arbeiteten etwa im Versandhandel, im Bereich der Zustellung oder in der Pflege. Viele seien Verdi-Mitglieder geworden.
Schulze: Debatte über Rückkehr „unseriös“
Für die humanitäre Hilfe in Syrien stellt das Auswärtige Amt zusätzliche acht Millionen Euro zur Verfügung. Auch die Hilfe für die syrischen Flüchtlinge in den Nachbarländern des Krisenstaates werde „angepasst“, sagte Baerbock.
Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) sagte zur Debatte über die Syrer in Deutschland: „Es ist absolut unseriös, jetzt über Abschiebungen oder die Rücknahme des Schutzstatus zu spekulieren, wo noch niemand weiß, wie sich die Lage entwickelt.“ Sie sprach von einem „historischen Zeitfenster“, in dem man die Entwicklung in Syrien zum Positiven beeinflussen könnte.
Ministerin Binz rät Syrern von Reise in Heimat ab
Die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Katharina Binz riet syrischen Flüchtlingen sogar von einer Reise in ihre Heimat ab, solange das in Deutschland nicht klar geregelt ist. Die Grünen-Politikerin appellierte an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), so schnell wie möglich eine generelle Regelung zu finden, von denen viele jetzt das erste Mal seit vielen Jahren ihre Familien in der Heimat sehen könnten.
Der sogenannte Heimaturlaub von Flüchtlingen könne nach dem neuen Sicherheitspaket der Bundesregierung zum Verlust des Schutzstatus führen, mahnte Binz in Mainz. Dies sei vielen nicht bewusst und gelte erst seit rund zwei Monaten. Ausnahmen seien „sittlich zwingend gebotene Reisen“. Dazu gehöre bisher etwa die Beerdigung naher Angehöriger. Ob eine Reise sittlich geboten sei oder nicht, entscheide das Bamf.
Binz kritisierte die Debatte über eine schnelle Abschiebung von Syrern als „deplatziert“. Wer dies fordere, scheine sich der Sinnhaftigkeit des historischen Moments nicht bewusst zu sein. Die Forderungen seien zudem „abseits der Realität“. Derzeit und auf absehbare Zeit gebe es zudem keine Grundlage für eine Abschiebung.
Migrationsforscher: Rückkehr unwahrscheinlich
Der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer hält es für unwahrscheinlich, dass die nach Deutschland gekommenen Syrer nun schnell und in der großen Mehrheit in ihre Heimat zurückkehren. Viele sähen ihre Zukunft in Deutschland. Es werde sicher einige Rückkehrwillige geben, wenn sich die Lage in Syrien stabilisieren sollte. „Aber diese Zahl sollte man nicht überschätzen“, sagte der Professor an der Universität Osnabrück der „Augsburger Allgemeinen“ und fügte zur Begründung hinzu: „Alle Erfahrungen zeigen, dass geflüchtete Menschen sehr viele Bindungen in der Ankunftsgesellschaft entwickeln.“
Der Menschenrechtler Kamal Sido sieht die Lage in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes als zunehmend gefährlich an. Es gebe immer mehr Berichte über Misshandlungen und Drangsalierung von Minderheiten, sagte Sido dem „Evangelischen Pressedienst“. „Meine anfängliche Freude ist mittlerweile in Angst, Trauer und Bitterkeit umgeschlagen“, sagte der seit 34 Jahren in Deutschland lebende Nahost-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker mit Sitz in Göttingen. (epd/dpa/mig) Leitartikel Panorama
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