Ansichten & Aussichten
Nein, bitte nicht
Der fünfzigste Griff in mein Afrohaar – eine rassistische Choreographie – und was er über unsere Gesellschaft sagt: Folgt mir in die Tiefe der systemischen Rassismus-Infrastruktur.
Von Miriam Rosenlehner Mittwoch, 11.12.2024, 11:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.12.2024, 11:21 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
In diesen Zeiten über eine kleine, persönliche Befindlichkeit zu schreiben ist irgendetwas zwischen selbstbezogen und unvernünftig. Aber sind wir ehrlich. Leute wie ich und Sie haben selten die Gelegenheit, dass sich alles mal nur um sie dreht. Wir sind so beschäftigt mit der Weltlage, während uns freundliche Menschen zulächeln und wissen lassen: Diese Energie hätte ich nicht. Dann möchte ich antworten: Ich habe diese Energie auch nicht. Das ist nur einfach keine Option. Deshalb dreht sich dieser Text einmal statt um Donald Trump oder das Ampel-Aus um meinen eigenen Bauchnabel. Genauer gesagt, um meine Haare. Dabei sind selbst meine Locken um einen größeren politischen Kontext gekringelt, auf dessen Spur wir hier gehen.
Der Anlass ist ein persönliches Erlebnis, das viele Zielpersonen von Rassismus mit mir teilen. Kürzlich war ich zu einer Feier eingeladen. Die etwa 20 Partygäste waren bereits guter Dinge und beim Eintreten begrüßte man sich freudig. Die erste Person hinter der Türe war eine Frau. Noch während sie mich begrüßte, ich bin gar nicht sicher, ob sie überhaupt mein „Hallo“ erwidert hatte, sagte sie mir, wie gut meine Haare aussehen würden. Schon streckte sie die Hand aus, während mein Lächeln auf dem Gesicht gefror, weil ich wusste, was kommen würde. Kurz bevor sie zugriff, besann sie sich und fragte, ob sie mein Haar anfassen dürfe. Ich bestätigte und sie griff in meine Locken. Zuletzt, als hätte es das noch gebraucht, lobte sie mein Haar und setzte begeistert hinzu: So wild!
Während des Vorfalls dachte ich wie so oft, dass ich darüber hinwegsehen können würde. Ich dachte, es würde mich nicht treffen. Ich hatte nur eine Millisekunde überlegt, ob ich ihr Ansinnen, mein Haar zu berühren, ablehnen konnte. Dann hatte ich mich dagegen entschieden. Wir lächelten doch, ich würde die Stimmung kippen lassen, wenn ich nein sagte.
„Ich habe gelernt, solche Übergriffe zu dulden.“
So schlimm war das ja auch nicht, oder? Sie war eine uninformierte Frau, die es nicht böse meinte. Mein Lächeln wurde ironisch, ich fing mich und fühlte mich kurz überlegen. Ich konnte das ertragen, dachte ich, ohne in Worten oder Sätzen zu denken. Schnelle Entscheidungen treffen wir Menschen oft auf Basis dessen, was wir gelernt haben. Ich habe gelernt, solche Übergriffe zu dulden.
Aber ich wachte nachts auf und erlebte dieses Anfassen im Halbschlaf erneut. Wer jetzt darüber nachdenkt, wie empfindlich ich bin, befindet sich in guter Gesellschaft. In meiner. Als ich richtig wach wurde, folgte ich dieser „Empfindlichkeit“, um herauszufinden, warum mich starkes Weib diese Wiederholung der beliebten und so oft erlebten Haarrassismus-Choreographie eigentlich in meine Träume verfolgte.
Die Sammlung, die ich zum Vorfall jetzt angelegt habe, möchte ich gerne teilen. Sie führt uns in die Tiefe der Inszenierung von Rassismus. Ich meine, deshalb lohnt sie sich.
Perspektivenwechsel
Sicher fragen sich jetzt einige, ob das überhaupt Rassismus ist. Die Grapscherin hat das doch sicher nett gemeint? Sie ist vielleicht ein Haarnerd wie ich selbst. Und muss man eigentlich das wertende Wort „grapschen“ verwenden? Schließlich könnte ich honorieren, dass sie das sicher nicht böse gemeint hat? Ich könnte. Aber wessen Erleben würde ich da beschreiben, meines oder das, das jede übergriffige Person für sich in Anspruch nimmt, um es nächstes Mal wieder genauso machen zu können? Unterdrückungsverhältnisse ähneln sich. Wenn ein netter Onkel einem jungen Mädchen auf den Hintern klopft, sollen wir das dann so beschreiben oder ihn einen Grapscher nennen? Welche Beschreibung zeigt welche Perspektive? Welche Beschreibung führt dazu, dass das Recht des Unangetastetseins mit dem des selbstverständlichen Berührens abgewogen wird?
„In Situationen mit Rassismus wiederholen sich Abläufe, wie in einer einstudierten Choreographie. Sie sind kein individuelles Verhalten.“
Ich habe ein paar Argumente, die gegen eine freundliche Deutung des Vorfalls sprechen: In Situationen mit Rassismus wiederholen sich Abläufe, wie in einer einstudierten Choreographie. Sie sind kein individuelles Verhalten, sondern die Nutzung der systemischen Infrastruktur Rassismus in unserer Gesellschaft. Und wenn ich von Choreographie spreche, meine ich, dass Menschen bis ins Detail dieselben Sätze verwenden, wenn sie eine Situation mit Rassismus inszenieren. Die britische Autorin Eddo-Lodge verwendet dafür die Wendung „es ist, als ob sie alle dasselbe auswendig gelernt haben“. Situationen mit rassistischen Choreographien sind Reenactments. Sie sind Inszenierungen eines bis ins Detail bekannten Ablaufs, dessen Erstaufführung in Zeiten des heißen Kolonialismus liegt. Deshalb kann ich vorher wissen, was kommt, manchmal schon beim ersten Blick des Gegenübers auf mein Haar.
Entmenschlichung
Bevor wir uns also weiter unten in die Analyse dieser Choreographie begeben, habe ich noch ein weiteres Beispiel von Reenactment. Neulich stiegen in Heidelberg Boxchampions in den Ring. Vor dem Weltklasse WM-Kampf der Frauen – Tina Rupprecht holte dabei gleich 3 Gürtel – kämpften weitere hervorragende Fighter gegeneinander. Für die zwei nichtweißen Kämpfer verwendete der Kommentator neben anderen, etwas komplexeren Choreographien, gleich mehrfach die Bezeichnung „wild“, um ihren Kampfstil zu beschreiben. Bei keinem der weißen Kämpfer hatte er diese Assoziation.
„‚Wild‘ ist eine Metapher für nicht ganz menschlich. … Wer nicht ganz Mensch ist, der genießt auch keine Menschenrechte.“
Der Begriff „wild“ ist ein typischer Move rassistischer Choreographien, das Wort hat eine lange Geschichte in der Sprache des Rassismus. Es wurde und wird benutzt, um nichtweiße Menschen als unzivilisiert oder unkontrolliert zu beschreiben. Diese Beschreibungen wurden seinerzeit benutzt, um zu rechtfertigen, warum Menschen versklavt und ihrer Kultur beraubt werden durften. Der Kommentator verwendete den Begriff genauso wie die Partygästin unbewusst, beide inszenierten aber dennoch dieses alte Theaterstück. „Wild“ ist eine Metapher für nicht ganz menschlich. Der Move zielt auf eines der Leitthemen von Rassismus, auf Entmenschlichung. Wer nicht ganz Mensch ist, der genießt auch keine Menschenrechte.
Macht
Rassismus ist daneben auch eine Darbietung von Machtverhältnissen. Die kleine Haarroutine des Partyabends war eine solche Machtdemonstration. Um zu verstehen, was dabei passiert, hilft es, sich die gleiche Situation in einem anderen Kontext vorzustellen. Stellen wir uns also vor, Sie gehen zu einem Bewerbungsgespräch. Ihnen gegenüber sitzt ein Mann in seinen Fünfzigern. Er trägt Anzug, Brille und für sein Alter hat er volles, silbernes Haar. Sie wollen den Job, er hat ihn. Würden Sie zuerst über sein Haar sprechen? Würden Sie es wagen, ihn anzufassen? Niemals. Und warum nicht? Weil Sie genau wissen, wer hier die Macht hat – und wie schnell Sie Ihre Chancen ruinieren könnten, wenn Sie seine Grenzen ignorieren, die Sie in diesem Moment sehr genau kennen. (Sie haben sich den Mann schon auch als weißen Mann vorgestellt, oder?)
„Wer Macht hat, hat häufig mehr als das, nämlich die Macht über die Körper anderer.“
Machtverhältnisse und die Frage von körperlicher Autonomie sind traditionell eng verwoben. Wer frei ist, hat Autonomie über seinen eigenen Körper. Wer Macht hat, hat häufig mehr als das, nämlich die Macht über die Körper anderer. Aus den USA erreichten uns Bilder von Demonstrationen nach der erneuten Wahl von Donald Trump. Radikale marschierten etwa auf dem Campus der Texas State University mit Schildern, auf denen sie den Zusammenhang eindrucksvoll erklären. „Women are property“ stand da und „Types of property: women, slaves, animals, cars, land etc.“
Macht über die Körper anderer bedeutet, die Integrität des Körpers von anderen zu ignorieren. Sie bedeutet gleichzeitig, dass der Inhaber des Körpers nicht als ebenso wertvoll betrachtet wird, wie derjenige, der sich als Eigentümer von Körpern anderer Leute begreift. Wenn Frauen Besitz sind, wie hier insinuiert, sind sie keine Menschen. Wenn Versklavte Besitz sind, sind sie keine Menschen.
Zurück von der Bühne der Weltpolitik zu meinen Locken. Die Missachtung meiner körperlichen Autonomie an diesem Abend folgt derselben Logik, allerdings in einem viel kleineren Maßstab. Macht es das besser? Das schon. Aber nicht gut. Es zeigt nur den Anfang des Weges, der uns am Ende zu Szenen wie auf dem texanischen Campus und darüber hinausführt.
Scham
Mich persönlich erinnert der Griff nach meinem Haar an die Tradition der Völkerschauen in Europa. Dieses angefasst werden, dieses zur Schau gestellt sein mit einem Merkmal, das noch bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts als Attraktion des Anders- und Minderwertigseins dargestellt wurde, um weiße Menschen damit zu unterhalten. Mehr noch. Um ihnen ein Gefühl der Überlegenheit zu geben. Um ihnen Rassismus beizubringen. Ich fühle mich schmutzig deswegen.
„Es geht um die Scham, die in Machtverhältnissen häufig auf der Seite der Opfer gespürt wird… Sie muss die Seiten wechseln.“
Dieses Gefühl, das den Schmutz, den andere über uns ausgießen, bei uns selbst zu Scham werden lässt, es spielt eine Rolle. Es geht um die Scham, die in Machtverhältnissen häufig auf der Seite der Opfer gespürt wird und die die Gesellschaft ganz selbstverständlich nur dort vermutet. Die Scham, die uns so häufig abhält, uns zu wehren. Die Scham, die auf einmal unklar werden lässt, wer Täter und wer Opfer ist.
Das lässt mich wieder an die große Weltbühne denken. An Gisèle Pelicot, deren Ehemann in Frankreich vor Gericht steht, weil er sie ihres Körpers enteignete und diesen auch weiteren Männern zur Verfügung stellte, während er sie betäubt hatte. Ihre Geschichte ist extrem und exemplarisch gleichzeitig. Auch sie wurde von der Presse gefragt, warum sie es wagte, ihr Gesicht zu zeigen. Warum sie eine öffentliche Verhandlung einforderte. Gisèles Antwort: Die Scham muss die Seiten wechseln.
Damit wir uns nicht missverstehen. Ein Vergleich zwischen den genannten Monstrositäten mit dem alltäglichen Haarrassismus verböte sich, ohne ihn in Relation zu setzen. Es ist der Vergleich zwischen einem harmlosen brennenden Streichholz und einem Flammeninferno. Und doch ist beides Feuer. Es funktioniert gleich, und wer das Hölzchen achtlos auf die staubtrockene Gesellschaft wirft, zündet sie an, wenn der Wind günstig steht.
„Scham ist ein mächtiger Mechanismus, der in missbräuchlichen Machtverhältnissen zerstörerische Wirkung entfaltet.“
Scham ist ein mächtiger Mechanismus, der in missbräuchlichen Machtverhältnissen zerstörerische Wirkung entfaltet. Die Art, wie meine Haare von der Gesellschaft wahrgenommen werden, war und ist ein häufiger Quell von Scham für mich. So ausdauernd, dass über die Zeit das Gefühl gewachsen ist, meine Haare selbst wären die Quelle für diese Scham. Scham, die mich lächeln lässt, wenn ich mich wehren sollte. Scham, die mich schweigen lässt, wenn ich reden sollte.
Ein so kleiner Moment, den ich weglächeln wollte, hat mich nachts zurecht geweckt, damit ich ihm nachgehe. Auf diesem Pfad bin ich erneut einigen der traditionellen Muster von Rassismus begegnet, die sich in so vielen rassistischen Choreographien wiederholen: Macht, Entmenschlichung und Scham.
Die Miniaturansicht meines Erlebnisses ist genau klein genug, um das Streichholz zu zeigen, das in uns allen noch glimmt. Ich wünsche mir, dass ich mich nächstes Mal erinnere. Denn meine Antwort auf die Frage, ob meine Haare angefasst werden dürfen, wäre heute: „Nein, bitte nicht. Sie sind frisch gewaschen.“ Der Satz klingt harmlos, aber er bricht mit einem jahrhundertealten Muster. Er macht meine Haare zu etwas Wertvollem und Reinem, das beschützt werden muss – er transformiert meinen Ekel und verschiebt ihn zusammen mit der Scham dorthin, wo sie hingehören: zu denen, die sich ohne Einladung ein Recht herausnehmen wollen, das ihnen nicht zusteht. Meinung
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