Gerechtigkeit für Mouhamed?
Sechs Polizeischüsse, ein toter 16-Jähriger, kein Schuldiger
Wann ist ein Verfahrensausgang gerecht? Dazu gehen die Meinungen nach einem Urteil zu tödlichen Polizeischüssen am Landgericht Dortmund weit auseinander: Erleichterung auf der einen, Enttäuschung auf der anderen Seite.
Sonntag, 15.12.2024, 11:43 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.12.2024, 14:58 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
„Justice for Mouhamed“ skandieren Dutzende im Zuschauerbereich des Landgerichts Dortmund. Sie fordern damit Gerechtigkeit für jenen 16-jährigen Geflüchteten aus dem Senegal, der im August 2022 von fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole der Polizei getroffen und getötet wurde. Gerade hat das Gericht sein Urteil gesprochen und begründet. Nach einem Jahr der Verhandlung kommt es zu dem Schluss, dass keinen der fünf angeklagten Polizisten und Polizistinnen Schuld am Tod des Jugendlichen trifft.
Die Beamten handelten, so lässt sich die Begründung des Vorsitzenden Richters Thomas Kelm zusammenfassen, weil sie Gefahr abwenden wollten: Erst die Gefahr, dass Mouhamed Dramé sich das Leben nimmt. Dann die – wenn auch bloß irrtümlicherweise angenommene Gefahr –, dass er die um ihn herum postierten Polizisten angreifen wollte.
Unterschiedliche Reaktionen
Was als gerechter Verfahrensausgang empfunden wird – das machen die unterschiedlichen Reaktionen auf das Urteil schnell deutlich – dazu gibt es im Fall der tödlichen Polizeischüsse von Dortmund weit auseinander liegende Meinungen.
Was am 8. August 2022 in dem Innenhof geschah, daran gebe es nach der Würdigung der Beweise keine Zweifel, stellt der Richter klar. Sowohl Funksprüche als auch ein Mitschnitt aus der Notrufleitstelle dokumentierten das Geschehen – inklusive der sechs schnell aufeinander folgenden Schüsse, von denen fünf trafen.
„Einpfeffern. Das volle Programm“
Zeugen schilderten im Wesentlichen immer wieder dieselbe Situation: Wie die Polizei eintraf, wie Mouhamed mit dem Messer auf seinen Bauch gerichtet weitgehend regungslos in der Nische lehnte, wie alle Versuche, ihn anzusprechen, ins Leere liefen. Wie sich die Beamten postierten und der Einsatzbefehl des Vorgesetzten kam: „Einpfeffern. Das volle Programm.“ Doch das Reizgas wirkt nicht so, wie erhofft: Statt das Messer fallen zu lassen, erhebt sich der Jugendliche und bewegt sich auf die in wenigen Metern Entfernung stehenden Polizisten zu. Die setzen ihre Taser ein, keine Sekunde später fallen die Schüsse.
Der Fall löste in der Öffentlichkeit großes Echo aus – und warf viele, auch grundsätzliche Fragen auf: Hat die Polizei ein Gewaltproblem? Offenbart das Verhalten der Beamten diskriminierende Verhaltensweisen oder rassistische Strukturen bei der Polizei? Sind die Männer und Frauen an der Waffe eigentlich gut genug auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen vorbereitet?
Oberstaatsanwalt warnt vor Sterotypen
Viele hätten versucht, Mouhameds Tod politisch auszuschlachten, es seien dabei reflexhaft Stereotype bedient worden, hatte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert in seinem Schlussplädoyer hervorgehoben: Von rechts seien widerliche Klischees von Messergewalt unter Migranten zu hören gewesen. Von links ertönten Rassismusunterstellungen pauschal gegen die Polizei, persönlich gegen die Angeklagten. Doch beides sei „absolut unzutreffend“, hielt Dombert fest.
Ursprünglich hatte er den Schützen wegen Totschlags angeklagt, seine Kollegen wegen gefährlicher Körperverletzung und den Einsatzleiter wegen Anstiftung zu dieser. Am Ende des Verfahrens änderte die Staatsanwaltschaft ihre Einschätzung: Mit Ausnahme des Einsatzleiters seien die Polizisten freizusprechen. Sie hätten annehmen müssen, angegriffen zu werden – auch wenn Mouhamed nur versucht habe, der Situation zu entkommen. Aufgrund welcher Erkenntnisse er seine Meinung änderte, ist nicht bekannt.
Verantwortung sahen die Ankläger nach rund 30 Prozesstagen allein beim Vorgesetzten: Er habe zu voreilig, und ohne Alternativen zu prüfen, den Einsatz von Pfefferspray angeordnet und damit den fatalen Lauf der Dinge erst in Gang gesetzt. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten beantragt – unter anderem wegen fahrlässiger Tötung.
Das sah das Gericht allerdings anders: „Ein sofortiger Zugriff war geboten“, so Richter Kelm. SEK, Hunde, Dolmetscher, gar ein Psychologe – diese Alternativen zum Pfefferspray wären aus Sicht der Richters angesichts des möglicherweise drohenden Suizidversuchs des Jugendlichen „völlig daneben“ gewesen.
Er sei wie sein Mandant erleichtert, dass das Gericht den „absurd hohen Maßstab bei der Bewertung einer Situation“ nicht für angezeigt hielt, sagt Michael Emde, Verteidiger des Dienstgruppenführers. Ein Schuldspruch für seinen Mandanten hätte große Verunsicherung zur Folge gehabt und damit eine Polizei, „die auf der Straße nicht mehr handlungsfähig ist“, weil sie raten müsse, wie Gerichte die Situation am Ende bewerten.
Polizisten erleichtert
Von einem angemessenen Urteil und Erleichterung bei seinem Mandanten spricht auch Christoph Krekeler, Anwalt des Schützen: Am Ende eines belastenden Verfahrens überwiege das Gefühl der Erleichterung. Nun sei der Blick frei für „eine echte Zukunft, ohne sich strafbar gemacht zu haben“. Er hoffe, dass auch „diejenigen Menschen, die die Polizeiarbeit als kritisch hinterfragen“, die Feststellungen und Urteilsgründe nachvollziehen und mit den rechtlichen Konsequenzen leben können.
Danach sieht es nicht aus – nicht bei jenen polizeikritischen Aktivisten, die nach dem Prozess das „völlige Fehlen einer Verantwortungsübernahme“ kritisieren und sich „strukturelle Veränderungen“ bei der Polizei gewünscht hätten. Erst recht nicht bei den enttäuschten Angehörigen des Getöteten: Sidy Dramé, der große Bruder von Mouhamed, der den Prozess als Nebenkläger verfolgte, hat rote Augen und einen müden Blick, als er nach dem Urteil neben seiner Anwältin vor dem Gerichtssaal steht.
Die Familie Dramé sei mit großen Hoffnungen in den deutschen Rechtsstaat hierhergekommen, erklärt Nebenklage-Anwältin Lisa Grüter. Dass die Tötung von ihrem Bruder nicht geahndet werde, dass niemand die moralische Verantwortung übernehme, sei schwer zu verkraften.
1.200 Menschen protestieren
Zwei Tage nach den Freisprüchen demonstrieren nach Polizeiangaben am Samstag in Dortmund etwa 1.200 Menschen friedlich gegen das Urteil. Auf Transparenten und Flugblättern forderten sie „Gerechtigkeit und Solidarität“ für Dramé und „für alle von der Polizei getöteten Geflüchteten“.
Mehrere Redner der Kundgebung sagen, der Tod von Mouhamed Dramé sei kein Einzelfall. Sie fordern „strukturelle Veränderungen, um weitere Tötungen durch die Polizei zu verhindern“. Der stellvertretende Landessprecher der Linken in Nordrhein-Westfalen, Jan Köstering, nennt die Freisprüche für die fünf angeklagten Polizistinnen und Polizisten „ein gefährliches Signal an die Gesellschaft“, dass Polizeigewalt nicht geahndet werde.
Subjektives Gerechtigkeitsempfinden
Schon in seinem Plädoyer hatte Oberstaatsanwalt Dombert prognostiziert, dass nicht alle den Ausgang des Verfahrens als gerecht empfinden werden – unabhängig davon, wie es im Einzelnen ausgeht. Zu subjektiv sei das Gerechtigkeitsempfinden. Auch die Staatsanwaltschaft selbst wolle nun in Ruhe prüfen, ob sie das Urteil anerkenne oder in Revision gehe.
Eines will er aber schon jetzt festgestellt wissen: Es sei wichtig, „dass die Geschehnisse um den tragischen Tod von Mouhamed Dramé in einem öffentlichen Verfahren, und zwar rechtsstaatlich, aufgearbeitet wurden. Und das war hier der Fall.“
Das letzte Wort in der Angelegenheit scheint aber noch nicht gesprochen worden zu sein. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Anwältin der Nebenklage kündigte an, sie werde Rechtsmittel beim Bundesgerichtshof einlegen. (dpa/epd/mig) Leitartikel Panorama
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