Hessen
Ausgabe der Bezahlkarte an Geflüchtete startet trotz Kritik
Die Bezahlkarte für Geflüchtete soll Kommunen entlasten und verhindern, dass Geld an Schleuser fließt – angeblich. Eine Studie belegt das Gegenteil und eine Stadt verweigert sie nun sogar. Sie befürchtet mehr Verwaltungsaufwand. Kritiker kündigen an, das System aushebeln zu wollen.
Montag, 16.12.2024, 14:04 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.12.2024, 14:27 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Ab dieser Woche sollen in Hessen die ersten Bezahlkarten an Geflüchtete ausgegeben werden. Die Karte sei ein wichtiges Instrument, um die „irreguläre“ Migration zu begrenzen, sagte Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) in Wiesbaden. Das Signal an alle Schlepper laute: „Wir legen eure Finanzquellen trocken“.
In einem ersten Schritt erhalten ab Montag neu ankommende Flüchtlinge in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung die Karten, wie Sozialministerin Heike Hofmann (SPD) erklärte. Gleichzeitig könne die Verteilung in den Kommunen beginnen. Die hessenweite Einführung soll Ende März kommenden Jahres abgeschlossen sein.
Warum wird die Karte eingeführt?
Vor rund einem Jahr hatte sich die Ministerpräsidentenkonferenz unter hessischer Führung auf das neue System geeinigt. Die Karte soll – so die offizielle Begründung – unter anderem Geldzahlungen an Schleuser oder Familien in den Heimatländern verhindern und somit den Anreiz für die irreguläre Migration senken.
Einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) zufolge gibt es für diese Annahme jedoch keinen Beleg – im Gegenteil: Nur wenige in Deutschland lebende Flüchtlinge überweisen der Untersuchung zufolge Geld ins Ausland. Im Jahr 2021 seien es gerade einmal sieben Prozent gewesen. „Die Vorstellung, dass Geflüchtete, die auf Grundsicherung angewiesen sind, in großem Umfang Geld ins Ausland schicken, entbehrt jeder empirischen Grundlage“, erklärte die kommissarische Direktorin des Sozio-oekonomischen Panels, Sabine Zinn.
Entlastet die Bezahlkarte die Kommunen?
Zudem soll die Karte Kommunen bei der Verwaltung entlasten. Statt staatliche Leistungen in bar oder als Scheck auszuzahlen, wird das Geld auf die Karte gebucht. Die Länder hatten sich darauf geeinigt, den verfügbaren Bargeldbetrag auf 50 Euro pro Monat zu begrenzen. Individuelle Ausnahmen sind möglich.
Info: Die Bezahlkarte in anderen Bundesländern
Bei der Einführung der Bezahlkarte haben sich die Bundesländer außer Bayern und Mecklenburg-Vorpommern zusammengetan. 14 Länder wollen künftig dasselbe System mit einem einheitlichen Dienstleister nutzen. Beispielsweise sollen die Karten auch in Niedersachsen kommende Woche erstmals ausgegeben werden. Die rheinland-pfälzische Landesregierung führt die Bezahlkarte für Geflüchtete Anfang Januar in der Erstaufnahmeeinrichtung in Trier ein. Nach und nach soll sie dann auf die anderen Aufnahmeeinrichtungen des Landes ausgeweitet werden. Auch im Saarland soll die Bezahlkarte zum Start ins neue Jahr kommen. In Baden-Württemberg waren die ersten Karten Anfang Dezember in der Erstaufnahmeeinrichtung in Eggenstein-Leopoldshafen verteilt worden, in Sachsen-Anhalt war die Bezahlkarte im November an den Start gegangen.
Davon machte zuletzt die nordrhein-westfälische Stadt Münster Gebrauch. „Der Rat der Stadt Münster sieht keine Notwendigkeit für die Einführung einer sogenannten Bezahlkarte für Geflüchtete im Zuständigkeitsbereich der Kommune“, heißt es in dem Antrag an den Rat, der dem MiGAZIN vorliegt. Die Verwaltung der Stadt stehe einer Einführung zurückhaltend gegenüber. „Sie sieht keine Verwaltungsvereinfachung, sondern erwartet eher Mehrarbeit und höhere Kosten“, heißt es weiter.
Was kann man mit der Karte machen – und was nicht?
Die Bezahlkarte ist eine guthabenbasierte Debitkarte ohne Kontobindung, eine Überziehung des Guthabens ist nicht möglich. Sie kann in allen Geschäften eingesetzt werden, die Visa akzeptieren – in allen anderen nicht. Ein Einkauf auf dem Trödelmarkt etwa, um sich beispielsweise günstig mit Klamotten einzudecken, ist damit ausgeschlossen.
Stattdessen kann an allen Geldautomaten in Deutschland und bei teilnehmenden Einzelhändlern im Rahmen des Einkaufs kostenlos Bargeld abgehoben werden – allerdings bis zu dem besagten Betrag von 50 Euro. Überweisungen ins Ausland sind ebenfalls ausgeschlossen. Die Nutzer können sich über die „My SocialCard App“ oder das Online-Portal www.socialcard.de über Umsätze informieren.
Welche Kritik gibt es?
Der hessische Flüchtlingsrat lehnt die Karte ab. Einer der Gründe: Die Beschränkung des Bargeldbetrags auf 50 Euro pro Monat sei für die Geflüchteten dramatisch, weil gerade in den wirtschaftlichen Bereichen, die arme Menschen nutzen, wie Kleinanzeigen, Flohmärkte oder Tafeln, eine Kartenzahlung nicht möglich sei.
Die Wahl des Ziellandes hänge für die Geflüchteten sicherlich nicht davon ab, ob es ein paar Euro mehr oder weniger in bar gibt, argumentierte der Geschäftsführer des Flüchtlingsrats, Timmo Scherenberg. Entscheidender sei etwa die Frage nach der allgemeinen Lebensperspektive. Im Kampf gegen Schlepperei sollte man sichere Fluchtwege schaffen, forderte er.
Bündnis kündigt Umtauschaktionen an – wie?
Ein Bündnis stellt sich ebenfalls gegen das neue System. Die Bezahlkarte schränke Asylsuchende massiv in ihrer Selbstbestimmung ein, verstärke Ausgrenzung und Stigmatisierung, teilte die Initiative „Hessen sagt Nein! zur Bezahlkarte“ mit. Dem Bündnis gehört unter anderem die Seebrücke Frankfurt an, die sich für sichere Fluchtwege stark macht. Das Bündnis kündigte an, die Bezahlkarte mit Umtauschaktionen aushebeln zu wollen. „In mehreren Städten in Hessen öffnen bald die ersten Wechselstuben“, hieß es. „Asylsuchende können dort Einkaufsgutscheine, die sie etwa in Supermärkten oder Drogerien per Kartenzahlung erwerben, gegen Bargeld eintauschen.“
Die Linke Hessen unterstützt nach eigenen Angaben den Aufruf. „Die Bezahlkarte ist Ausdruck eines besorgniserregenden Rechtsrucks in Gesellschaft und Politik, der mittlerweile zu einem Wettbewerb der Schäbigkeiten geführt hat“, teilten die Landesvorsitzenden Desiree Becker und Jakob Migenda mit. Absurderweise bedeute die Einführung der Bezahlkarte nicht nur mehr Ausgrenzung für die Betroffenen, sondern führe aufseiten der Verwaltung zu enormen Mehraufwand.
Wer erhält eine Bezahlkarte und wer trägt die Kosten?
Die Bezahlkarte wird in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen an neu einreisende Geflüchtete ausgegeben, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen und bereits einen Asylantrag gestellt haben. Daneben sollen auch Asylsuchende diese Karte bekommen, die bereits in der Erstaufnahmeeinrichtung leben. Auch nach Zuweisung in die Kommunen kann die Bezahlkarte dort grundsätzlich weiter genutzt werden.
Die Einführung der Karte in Hessen wird vom Land bezahlt. Zur Koordinierung wurde eine eigene Stelle beim Regierungspräsidium Gießen geschaffen. Sie fungiert nach Angaben der Staatskanzlei als Bindeglied zwischen Land, Kommunen und Dienstleistern. (dpa/mig) Aktuell Panorama
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