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Die und Wir

AfD, heimlicher Wunsch der Mehrheitsgesellschaft

Die Wahlerfolge der AfD sind keine Überraschung. Die Gründe liegen nicht am rechten Rand, sondern in der Mitte – Gesellschaft, Politik und Staat Hand in Hand.

Von Dienstag, 21.01.2025, 10:47 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.01.2025, 10:53 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Aktuelle Wahlergebnisse sind ein Resultat dessen, was im Inneren der Republik schon vor der Wende schlummerte. Die AfD wurde nicht in einem Dorf im Osten der Republik gegründet, wo angeblich die sogenannten „abgehängten Deutschen“ leben, sondern im Westen, in Oberursel bei Frankfurt, wo die Besserverdienenden und die Reichen ihr Domizil haben.

„Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert.“ Mit diesen Worten hat die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2010 ihre politische Karriere beflügelt und die männliche Konkurrenz in ihrer CDU abgehängt. Sie hat diesen Satz nicht im Bierzelt auf einem CSU-Parteitag gesagt, sondern bei der Jungen Union, um sich politische Vorteile zu verschaffen. Denn 2010 war sie bei weitem nicht so beliebt wie in den Jahren danach. Solche Sprüche auf Kosten der migrantischen Bevölkerung bringen potenzielle Wählerstimmen und kosten nichts. Und tatsächlich hat die Union bei der Bundestagswahl 2013 einen großen Sieg errungen.

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„Rechte Parteien und Bewegungen sind nie in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie waren nie woanders.“

Im selben Jahr wurde die AfD gegründet. Frau Merkels Worte waren eine Steilvorlage für die AfD. Ein Jahr später, 2014, folgte die Gründung der Pegida. Dieser zeitliche Zusammenhang ist zwar „nur“ eine zeitliche Abfolge, aber in der Verdichtung des politischen Geschehens in Deutschland und dem organisierten Rechtsruck schon bedeutsam. Rechte Parteien und Bewegungen sind nie in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie waren nie woanders.

Ein interessantes Phänomen ist, dass viele Funktionäre, Wähler und Sympathisanten der AfD im öffentlich-rechtlichen Bereich tätig waren oder sind. Zum Beispiel bei der ARD, an Universitätskliniken, bei der Bundeswehr oder in Unternehmen. Es sind also Bürger, die in quasi staatstragenden Institutionen tätig sind oder waren. Sie kommen buchstäblich aus der Mitte der Gesellschaft und haben AfD, Pegida und viele andere rechte Gruppierungen genährt. Viele Ortsverbände der AfD wurden nicht von Leuten gegründet, die vom Himmel gefallen sind, sondern von „Abtrünnigen“ der Grünen, der SPD, der Linken. Umfragen seit den 50er Jahren zeigen deutlich, dass rechtsnationale Einstellungen stabil bei über 20 Prozent liegen. Dies passt zu der Feststellung, dass völkisches Denken tief in der deutschen Gesellschaft verankert ist, auch wenn dies von vielen Seiten kategorisch bestritten wird.

Seit Jahrzehnten wird NS-Zeit aufgearbeitet – dennoch sind völkische Einstellungen präsent

Es ist bemerkenswert, dass nach über 75 Jahren Bundesrepublik Deutschland nationalsozialistisches Gedankengut immer noch präsent ist. Das ist ein klares Zeichen dafür, wie die parlamentarische Demokratie und wir Bürger:innen mit rechtem Gedankengut umgehen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von fremdenfeindlichen Reden, Parolen und politischem Handeln verabschieden. Diese gängige Praxis hat über Dekaden dazu beigetragen, dass wir heute hier stehen. Die etablierten Parteien haben in vielfältiger Form Parolen und Handlungen der AfD übernommen. Sie wollten damit die AfD kleinkriegen und/oder potenziellen Wähler:innen gefallen.

Auch der Staatsapparat, der als neutrales Gebilde überbewertet wird, hat selbst mit rechtem Gedankengut zu kämpfen. Staatsbedienstete sind und waren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in vielen Fällen stille Förderer der organisierten rechten Parteienlandschaft. Beispielhaft dafür ist ein Dr. Hans-Georg Maaßen. Er, der 20 Jahre im Bundesinnenministerium gearbeitet hat und unter anderem für das Ausländerrecht zuständig war, hat viel geschrieben, unter anderem, dass Eingebürgerte „nominell deutsche Staatsangehörige“ seien. Mit Gesetzentwürfen, Aufsätzen und als Jurist hat er sich einen Namen gemacht und das Rechtssystem für seine rechte Ideologie missbraucht.

„Maaßen ist das Paradebeispiel eines ehrenwerten Staatsbeamten, der grundsätzlich rassistisch dachte und dies im Staatsdienst je nach Opportunität mal herausholte und mal versteckte.“

In der rot-grünen Bundesregierung diente er unter Minister Otto Schily. Er hat das Zuwanderungsgesetz und seine Ausführungsbestimmungen maßgeblich mit rechtem Gedankengut durchsetzt. Umgangssprachlich ausgedrückt: Hier wurde der Henker zum Richter gemacht. Denn weder seine Dissertation noch seine Äußerungen haben seiner Karriere geschadet. Im Gegenteil: Er diente gut befördert unter mehreren Ministern. Er ist das Paradebeispiel eines ehrenwerten Staatsbeamten, der grundsätzlich rassistisch dachte und dies im Staatsdienst je nach Opportunität mal herausholte und mal versteckte. Immerhin hat er es bis zum Chef des Verfassungsschutzes geschafft. Und niemand will was bemerkt haben!

Während Maaßen mit kalter Bürokratie seine Agenda vorantrieb, ist die rechte Gewalt gegen Nicht-Deutsche eine Realität, die eine längere Tradition als die AfD selbst hat. Allein seit der Wiedervereinigung bis etwa 2020 wurden nach Zählungen der Zivilgesellschaft über 200 Ausländer ermordet. Ihr einziges Verbrechen: Sie wurden als Ausländer gebrandmarkt. Von 2000 bis 2006 hat der NSU ungehindert seine Morde begangen – unter den Augen aller Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes: Staatsschutz, Landeskriminalämter, Bundespolizei, Verfassungsschutz, u. v. m. Zahlreiche Kommissionen, Ausschüsse und parlamentarische Gremien haben sich damit befasst und ein völliges Versagen der Polizei und anderer staatlicher Stellen festgestellt. Dennoch ist eines sicher: Bis heute wissen wir nicht, wie das Gesamtbild dieser Morde aussieht. Und eine lückenlose Aufklärung ist nicht in Sicht, im Gegenteil.

Vertriebene und Care-Pakete – auch das war Deutschland über Jahre

„Die Internationale Organisation für Migration (IOM ) wurde nicht gegründet, um afrikanischen Flüchtlingen zu helfen, sondern um das menschliche Elend mitten in Europa zu bewältigen, den Deutschen zu helfen.“

Und wie war das zwischen 1945 und 1955 auf dem Gebiet der DDR und der BRD mit den Flüchtlingen, die heute die deutsche Politik dominieren? Vertriebene und Care-Pakete – das war Deutschland über Jahre. Diejenigen, die „auswandern“ wollten, andere, die als Nazis mithilfe von Schleppern Deutschland verlassen wollten, Binnenflüchtlinge – sie alle waren auf Care-Pakete angewiesen. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) wurde nicht gegründet, um afrikanischen Flüchtlingen zu helfen, sondern um das menschliche Elend mitten in Europa zu bewältigen – den Deutschen zu helfen.

Hier, mitten in Europa, das sich für den Nabel der Welt hält, brodelte der Krisenherd der Welt. Hilfsorganisationen und Spendensammler waren vor Ort, um zu helfen. Und das kann sich hier wiederholen, so viel ist sicher. Der ständige Verweis auf das Elend im globalen Süden ist eine Verklärung der eigenen Geschichte. Deutschland war lange das Land der umherirrenden Flüchtlinge. Der Begriff „Auswanderung“ war nichts anderes als ein Euphemismus für Flucht – und das über Jahrhunderte! Um es im Jargon der Mehrheitsgesellschaft zu sagen: Sie waren Wirtschaftsflüchtlinge, Armutsflüchtlinge, Klimaflüchtlinge (damals: Missernten und Hungersnöte), politische Flüchtlinge, religiöse Flüchtlinge, Flüchtlinge, die ein besseres Leben suchten, unterdrückte Minderheiten auf der Flucht.

Es ist offensichtlich, dass Demokratie kein Garant für Antirassismus ist.

Es ist erstaunlich, wie sich im Land der Dichter und Denker auch im 21. Jahrhundert der Rassismus nicht nur am rechten Rand, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft fest verankern konnte. Das Abendland und damit auch Deutschland rühmt sich zu Recht, rational zu denken und vernunftorientiert zu handeln. Und doch handeln sie irrational, indem sie sich als Weiße den Nicht-Weißen automatisch überlegen fühlen.

„Die einfachste Methode, Selbstwertgefühl zu erzeugen, besteht darin, eine Gruppe als minderwertig abzustempeln.“

Wie kann es sein, dass gerade diejenigen, die so stolz auf ihre Rationalität, Objektivität und Vernunft sind, so unvernünftig handeln und von der Hautfarbe auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten anderer schließen? Eine Erklärung ist, dass Rassismus gezielt und bewusst als Ordnungsprinzip und Herrschaftsinstrument eingesetzt wird. Eine andere ist, dass die weiße Gesellschaft die Nicht-Weißen als Projektionsfläche benötigt, um die Besonderheit und Überlegenheit der Weißen zu manifestieren. Die einfachste Methode, Selbstwertgefühl zu erzeugen, besteht darin, eine Gruppe als minderwertig abzustempeln. So fühlt man sich selbst besser. Wer kein Selbstwertgefühl hat, muss es sich offenbar auf die primitivste Weise aneignen.

Das ist das politische und psychologische Elend des Rassismus.

Daher lassen wir uns nicht wie Lämmer zur Schlachtbank führen. Und wir lassen euch auch nicht mit der AfD und dem völkischen Sumpf allein. Wir sind hier, um zu bleiben. Denn ihr wart bei uns (ungebeten) bevor wir hier waren!

Erstveröffentlichung: LoNam-Magazin, hier, überarbeitete Fassung.

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