Theater, Kultur, Bühne, Sitze, Theatersaal, Vorstellung
Theater (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

Entfremdet

Wie der deutsche Kultur- und Sozialbereich entmigrantisiert wird

Der Krieg im Gazastreifen und die damit einhergehenden pauschalen Antisemitismus-Vorwürfe haben den Kulturbetrieb in Deutschland für viele Migranten auf den Kopf gestellt. Sie wurden ausgegrenzt, ausgeschlossen, mundtot gemacht, gefeuert – und entfremdet.

Von Montag, 17.02.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 17.02.2025, 8:52 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Die sogenannte Antisemitismus-Resolution, die der Bundestag Anfang November 2024 verabschiedet hat, bestimmt unter anderem, dass künftig „haushälterische Regelungen“ zu treffen sind, die verhindern sollen, dass antisemitische Inhalte oder Akteure im Bereich Kultur und Medien öffentliche Förderungen erhalten. Im Vorfeld hatte es breite Kritik gegeben: Diese Resolution werde Ausgangspunkt für weitere Verschärfungen, Zensur und Einschränkung der Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit sein. Für weltweites Aufsehen – und Kopfschütteln – hatten bereits die „Antisemitismus-Eklats“ rund um die Documenta 2022 und 2023 sowie die Berlinale 2024 gesorgt.

Bislang kaum Beachtung fanden und finden dagegen die Schicksale zahlreicher Kleinkünstler und Beschäftigter im Kultur- sowie im Sozialbereich. Schon seit Längerem, spätestens aber seit Oktober 2023, mussten viele von ihnen am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn der diskursive Raum verschwindet – oder präziser: drastisch nach rechts verschoben wird. Dabei geht es um elementare Grundrechte wie Meinungs-, Forschungs-, Informations- und Kunstfreiheit. So erleben diese Betroffenen am eigenen Leib, dass „Diskurs“ nicht, wie fälschlicherweise häufig verwendet, einfach ein akademisch verbrämter und irgendwie klug klingender Ausdruck für „Diskussion“ ist. „Diskurs“ ist nach Foucault ein Machtinstrument.

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Zudem zeigt sich, dass der „Raum“ keineswegs ein imaginärer bzw. gesellschaftlicher sein muss. Immer mehr geht es um ganz reale, physische Räume: Räume, die Künstlern und Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und Referenten, politisch oder sozial Engagierten verwehrt und entzogen werden. Damit verbunden wiederum ist nicht selten ein weiterer Bereich, der sowohl ein physischer als auch ein gesellschaftlicher Ort ist: der Arbeitsplatz. Wer als Freischaffender tätig ist, ist auf Räume angewiesen, in denen er sich und sein Werk präsentieren kann.

Über all berichten im Folgenden Leute aus den Bereichen Kunst und Kultur, dem Sozialen, der Flüchtlingshilfe und der Wissensvermittlung. Sie sind nicht alle bereit, sich mit ihrem vollen Namen öffentlich erkennen zu geben. Verständlich, angesichts der Erfahrungen, die sie schildern. Sie reichen von Ausgrenzung über rassistische Anfeindungen, Stalking und öffentlicher Diffamierung bis hin zur Entlassung. Sie sind keine Einzelfälle. Ihre Reaktionen sind facettenreich – Angst, Depression, Trotz, Wut, Kündigung, Protest – die Wirkung aber ähnlich: eine extreme Entfremdung.

Nadia (30) aus NRW

Bis zum 7. Oktober 2023 habe sie sich kaum als Palästinenserin identifiziert, erzählt Nadia. Daher und weil sie auch „deutsch gelesen“ werde, habe sie bis dahin keine Probleme in ihrem Arbeitsfeld gehabt. „Erst die Ereignisse des 7.10. und deren Folgen weltweit haben mich meiner eigenen palästinensischen Identität nähergebracht. Damit einher ging eine unfassbare Ohnmacht, die mir fast den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.“ Daher begann sie, sich politisch zu engagieren.

Das wiederum wirkte sich schon bald auf ihre Arbeit aus: „Ich musste innerhalb eines laufenden Projektes die Erfahrung machen, dass eine Person, die in Kollaboration mitarbeitete, anfing, privat massiven Druck auf mich auszuüben“. Sie sei beschuldigt worden, „Fake News“ zu verbreiten, bei ihren Kollegen angeschwärzt worden und schließlich sei die Person aus einem laufenden Projekt ausgetreten, „weil ich mich nicht öffentlich von meiner Position zu Palästina distanzierte.“ Eine weitere Person sei kurz darauf ebenfalls aus dem Projekt ausgestiegen. Immerhin: „Glücklicherweise konnte das Projekt trotzdem erfolgreich durchgeführt werden, weil der Kern der Gruppe solidarisch blieb und sich auch sonst nicht vereinnahmen ließ.“

Darüber hinaus geriet Nadia zunächst privat und später durch eines ihrer Musikprojekte in den Fokus eines reichweitenstarken Online-Blogs, weil sie im Rahmen einer Kulturveranstaltung zum Nakba-Tag auftrat. „Diejenigen, die gegen uns hetzen und uns verstummen lassen wollen, wissen ganz genau, wo es am meisten wehtut: Freiberufliche KünstlerInnen sind auf ihre Außenwahrnehmung angewiesen, nur so können sie ihre Arbeit einem breiten Publikum zugänglich machen. Wenn deine Reputation Schaden nimmt, weil dir beispielsweise ein Stigma wie ‚Hamas-Sympathisantin‘ oder ‚Terrorverharmloser‘ oder irgendein sonstiger Fantasietitel anhaftet, dann kannst du weder deiner Arbeit noch deinem Aktivismus nachgehen“.

„Die Antwort darauf könne nur Solidarität lauten … Die aber bleibe bislang weitgehend aus. Vor allem Kunst- und Kulturräume verweigerten sie, häufig … aus Angst vor dem Verlust der öffentlichen Förderung.“

Die Antwort darauf könne nur Solidarität lauten, vor allem unter den Künstlern, aber auch durch die Konsumenten. Die aber bleibe bislang weitgehend aus. Vor allem Kunst- und Kulturräume verweigerten sie, häufig gar nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst vor dem Verlust der öffentlichen Förderung: „Dieser rassistische und menschenverachtende Blog hetzt nach Lust und Laune öffentlich gegen alle Kunst- und Kulturschaffenden, die sich in irgendeiner Form für Palästina einzusetzen versuchen.“ Die Fördergeber und Politiker sowie die meisten Kunst- und Kulturschaffenden wie auch die öffentlich geförderten Räume wiederum gäben allzu schnell dem Druck nach und schwiegen oder reproduzierten die haltlosen Vorwürfe sogar.

Ein Beispiel dafür sei der „Bahnhof Langendreer“ in Bochum. In dem soziokulturellen Zentrum, das nach eigenem Anspruch „Kultur mit gesellschaftspolitischen Inhalten“ verbinden will, sollte im September letzten Jahres eigentlich eine Fotoausstellung mit Bildern aus Gaza stattfinden. Organisiert hatte das alles der Völkerrechtler Norman Paech, der auch zur Eröffnung nach Bochum kommen sollte. Dazu kam es nicht. Die Zusage wurde nach öffentlicher Kritik – so abwegig sie auch war – und aus Sorge um den Verlust der Förderung zurückgezogen. Die Ausstellung, so Paech, befand sich bereits in Bochum, als die Entscheidung, das Event zu canceln, fiel. Nadia betont in diesem Zusammenhang allerdings auch das Dilemma dieser Einrichtungen: „Die Verantwortung liegt letztlich in der Politik. Solche Einrichtungen hängen an der Förderung und müssen ihre Gehälter bezahlen.“

Rahim (37) aus Duisburg

Rahim ist syrischer Araber, kam als politischer Flüchtling nach Deutschland, hat mehrere Jahre in einem soziokulturellen Zentrum in Duisburg gearbeitet. Kurz nach dem 7. Oktober 2023 wollten Leute aus seinem Team ein öffentliches Statement zu den Geschehnissen in und um Gaza veröffentlichen. „Ich war dagegen und habe das auch gesagt: Viele Kriege haben stattgefunden, aber wir haben uns nie geäußert. Wieso jetzt bei diesem? Und das war der Anfang, wo man schnell gesehen hat, es gibt unterschiedliche Meinungen hier.“

Bis dahin sei es so gewesen, dass das Zentrum offen stand für verschiedenste Meinungen, für Austausch und Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen. Jetzt sei es „typisch deutsch“ geworden, wie Rahim meint: „Ich war der Einzige, der pro Palästina war. Alle anderen, alle Deutschen, waren, ohne zu hinterfragen, pro Israel. Sie hatten diese typischen deutschen Narrative im Kopf.“ Er habe das Gefühl, dass „alle die gleiche Meinung hatten, ohne dass sie sich mit dem Thema beschäftigt und sich selbst eine Meinung gebildet hätten.“ Außerdem seien „natürlich alle für Frieden“ gewesen, was aber letztlich bedeutet habe, dass sie zu den Verbrechen gegen die Palästinenser schwiegen.

„Sie wissen, dass das, woran sie glauben, irgendwie nicht der Realität entspricht. Aber sie möchten sich damit nicht beschäftigen, sondern einfach weiterleben.“

Fast ein halbes Jahr arbeitete Rahim weiter in dem Zentrum. „In diesen vier oder fünf Monaten haben wir keinerlei Diskussion um dieses Thema geführt, obwohl es überall Thema war, auch in Deutschland.“ Trotzdem habe er das Gefühl, dass einige mit der Zeit gemerkt hätten, dass etwas nicht stimme: „Sie wissen, dass das, woran sie glauben, irgendwie nicht der Realität entspricht. Aber sie möchten sich damit nicht beschäftigen, sondern einfach weiterleben.“

Im Dezember 2023 habe eine Veranstaltung mit einem Referenten stattgefunden. Er habe derart offen rassistische und antimuslimische Äußerungen vom Stapel gelassen, dass selbst einige von Rahims Kollegen hinterher eingestanden hätten, dass dieses Event ein Fehler gewesen sei. Nachhaltig sei dieses Eingeständnis aber nicht gewesen. Auf eine Anfrage einer palästinensischen Kulturgruppe hätten die Betreiber des Zentrums – entgegen des bisher gängigen Umgangs – geantwortet, man müsse mit ihnen erst ein persönliches Gespräch führen und ihnen auf den Zahn fühlen. Da sei für Rahim das Maß voll gewesen: „Dieser andere Kerl wurde sofort eingeladen und sogar bezahlt. Und diese Leute wollten nur tanzen oder Theater machen, symbolische Sachen. Und das wurde so überprüft, als wären sie Kriminelle.“

Daraufhin kündigte Rahim. Schwer sei ihm diese Entscheidung nicht gefallen: „Mir war klar, ich muss das jetzt machen. Zum Glück habe ich sofort einen anderen Job gefunden. Aber das hat mir damals keinen Kopf bereitet. Viel wichtiger war mir, dass es richtig war. Die Leute in Gaza verlieren viel, viel mehr als wir hier.“ Trotzdem belastet ihn das Ganze ein Jahr später immer noch sichtlich. „Bis heute wurde darüber nicht geredet. Und es macht mich immer noch wütend.“

Samar (41) aus Darmstadt

Samar ist in Karachi geboren und in Hessen aufgewachsen. Seit 2006 lebt sie in Darmstadt, wo sie im sozialen Bereich arbeitet und sich daneben seit bald zehn Jahren ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagiert: Sie dolmetscht, unterstützt und berät von Abschiebung Betroffene und hält Vorträge. Ihr Schwerpunkt dabei ist Pakistan, das Land ihrer Eltern. Bis Oktober 2023 wurde sie von verschiedenen Organisationen als Referentin und Expertin eingeladen. „Auch nach dem 7. Oktober standen Termine zum Referieren fest“, erzählt sie. „Aber dann wurden sie abgesagt. Wegen angeblichen Antisemitismus.“

„Auf meine Mails, meine Bitten oder Anfragen wegen Unterstützung für Menschen in Abschiebehaft wurde einfach nicht mehr geantwortet. Und ich wurde auch immer seltener zu Veranstaltungen eingeladen.“

Auch mehrere Flüchtlingsorganisationen, Menschenrechtsgruppen und Initiativen gegen Abschiebehaft hätten sich von ihr abgewandt: „Auf meine Mails, meine Bitten oder Anfragen wegen Unterstützung für Menschen in Abschiebehaft wurde einfach nicht mehr geantwortet. Und ich wurde auch immer seltener zu Veranstaltungen eingeladen.“ Die Auswirkungen spürt nicht nur sie, vor allem treffen sie diejenigen, denen sie zu helfen versucht: „Ich versuche die Probleme der Klienten alleine zu lösen, aber ich kann das nur sehr schwer alleine stemmen. Vor allem fehlen mir die finanziellen Mittel. Die bekam ich bisher durch die Unterstützer und Gruppen.“

Mittlerweile ist Samar stark resigniert, was die Flüchtlingssolidarität in Deutschland angeht: „All diese Menschen, die mich gecancelt haben, sind ‚für Menschenrechte‘ und kämpfen für eine ‚faire Asylpolitik‘ – aber wenn es um die Palästinenser geht, dann hören bei ihnen Menschenrechte und Solidarität mit Geflüchteten auf. Das ist menschenverachtend und heuchlerisch.“ Eine Zusammenarbeit ihrerseits mit diesen Organisationen und Personen kann sie sich mittlerweile nicht mehr vorstellen.

Paulina (36) aus Bochum

Paulina ist Palästinenserin aus Bethlehem, geboren und aufgewachsen ist sie allerdings in der arabischen Community von Santiago de Chile – „der größten palästinensischen Diaspora der Welt außerhalb der arabischen Länder“, wie sie stolz betont. Sie arbeitet in verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens als Tänzerin, Choreografin, Tanzvermittlerin, Kuratorin und Projektmanagerin in diversen Projekten.

Auf die Frage, welchen Einschnitt der 7. Oktober 2023 für sie persönlich bedeutet habe, antwortet sie zuallererst: „Seitdem stehe ich unter starkem Schock, da ich den Genozid am palästinensischen Volk tagtäglich live beobachten muss. Besonders erschütternd ist das Ausmaß der Zerstörung von Leben in Gaza, von Communitys, die bereits zwei- bis dreimal vertrieben und enteignet worden sind.“ Erst dann kommt sie auf sich und ihr Leben in Deutschland zu sprechen: „Ich kann den Hass gegen Araber:innen und Muslim:innen kaum noch ertragen. Beides war vorher schon da, aber es hat sich seit Oktober 2023 noch weiter verschärft. Die Verletzung, die ich am häufigsten erfahre, ist, dass mir als Palästinenserin meine Identität abgesprochen wird: Ich darf nicht existieren.“ Allzu oft werde sie mittlerweile beleidigt: Aussagen wie „Scheiß Araber“ oder „Fuck Palestine“ gehörten nun zum Alltag.

Diese Erfahrungen machten auch vor ihrem Arbeitsleben nicht halt: Einmal sei sie von einem Projektleiter eines bekannten Kulturzentrums eingeschüchtert und in sozialen Medien gestalkt worden. Als ihr Auftraggeber habe er Zugriff auf personenbezogene Daten, darunter ihrer Privatadresse. „Als migrantisierte Person und Frau of Color in Deutschland“ fühle sie sich in dieser Situation schutzlos.

„Darüber hinaus bekomme sie viele Absagen bei Bewerbungsprozessen, oft explizit mit der Begründung, dass das Thema Palästina ‚gefährlich‘ sei.“

Darüber hinaus bekomme sie viele Absagen bei Bewerbungsprozessen, oft explizit mit der Begründung, dass das Thema Palästina „gefährlich“ sei. Drei Personen hätten sich zudem von langfristigen Projekten mit ihr zurückgezogen – „ganz plötzlich, immer aus Angst, in das Thema ‚Palästina‘ verwickelt zu werden.“ Unter ihren Kollegen und an der Universität sei sie fast nur auf Desinteresse und Ablehnung gestoßen. Ebenso in der queeren Szene: „Alle gehen auf queere Partys, auf denen übrigens oft keine Araber:innen willkommen sind. Und sie finden es ‚nervig‘, dass ich auf Instagram über Palästina berichte. Ich habe Beschwerden erhalten, unter anderem von der Leiterin einer bekannten queeren Bar in Bochum.“

Bei einer Veranstaltung hätten Arbeitskollegen von ihr zudem eine Person wegen des Tragens einer Kufiya aus dem Veranstaltungsort geworfen. „Danach haben sie diesen rassistisch motivierten Akt auch noch verteidigt“, berichtet sie erbost. Obwohl so viel über Intersektionalität geredet werde, erlebten Muslime und Araber in Deutschland „keine Solidarität von feministischen, queeren, linken, BIPOC- oder Klima-Aktivismus-Räumen, wie es in anderen Kontexten der Fall ist“, stellt sie resigniert fest. „Für uns PalästinenserInnen in Deutschland ist der politische Diskurs ein Zirkus.

Es ist absurd zu sehen, wie sich Kolleg:innen über Kürzungen im Kulturbereich aufregen, aber keine Minute über die Probleme von rassifizierten und migrantisierten Menschen – die sie letztlich als ‚Untermenschen‘ behandeln – nachdenken. Ebenso schockierend ist es zu beobachten, dass alle Angst vor der AfD haben, während die gesamte Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Kälte und Indifferenz bereits gefährlich nah am Faschismus steht. Wir erleben eine Mischung aus Naivität und Arroganz auf höchstem Niveau – und das sollen wir ertragen, während wir Tag und Nacht den Genozid an unserem Volk in Palästina erleben.“

Auf die Frage, ob sie Zukunftsängste hat, antwortet sie prompt: „Ich habe keine Angst.“ Um dann hinzuzufügen: „Nur finanzielle Sorgen und Depressionen. Ich bin privilegiert, in einem reichen Land wie Deutschland zu leben, und trotzdem ist das Ertragen einer so extrem rassistischen Gesellschaft ungesund. Jedes Mal, wenn ich meine Emotionen ausdrücke, werde ich nicht mit Empathie, sondern mit Ablehnung konfrontiert. Das zerstört psychisch.“

Ibrahim (26) aus Duisburg

Seine Freunde nennen ihn Ibo. Öffentlich tritt er unter dem Künstlernamen „Tenor“ auf und macht politische Musik. Er ist in Marxloh geboren und aufgewachsen, seine Eltern kommen aus der Türkei. Er studiert und gibt in Duisburg und Umgebung Rap-Workshops in Schulen, Jugendzentren, Kulturvereinen und Jugendgefängnissen. „Als jemand, der sowohl als Künstler als auch als politische Person auf Ungerechtigkeit aufmerksam macht, habe ich mich schon immer gegen das Leid der Palästinenser eingesetzt.“ Das sei bis Oktober 2023 kein Problem gewesen. Dann aber wurden zwei seiner Projekte kurzfristig beendet. „Grund war meine Haltung zu Palästina. Ich habe da zwei Grundsätze: Erstens hat jedes unterdrückte Volk das Recht, sich zu verteidigen. Keiner muss Gewalt über sich ergehen lassen. Und zweitens stehe ich für ein freies Palästina, wo Menschen jeder Religion und Herkunft gleichberechtigt leben können. Das ist die Haltung, für die ich gekündigt wurde.“

Besonders enttäuschend für ihn sei allerdings die Art und Weise gewesen, wie das ganze vonstattenging: „Das Fatalste war der Umgang. Beide Projekte mit mir wurden einfach gestoppt, ohne mit mir überhaupt zu reden. Erst im Nachhinein hat man mir ein Gespräch angeboten, was ich dann aber natürlich nicht mehr ernst nehmen konnte.“ Er sei mit seinem Fall bewusst nicht an die Öffentlichkeit gegangen: „Es war schwer für mich, weil die Einrichtungen wichtig und nützlich für die Kinder sind. Ich habe dabei an die Kinder gedacht – letztlich ganz im Gegensatz zu den Einrichtungen selber…“ Mit einer der beiden Institutionen sei er seit Kurzem wieder in Kontakt. „Sie haben ihr Fehlverhalten reflektiert und sind mittlerweile bewusster und sensibler gegenüber dem Leid und dem Widerstand der Palästinenser.“

„Alle anderen dachten, sie sei Marokkanerin. Das war eine bewusste Entscheidung von ihr, um dem aktuellen antipalästinensischen Rassismus in der sozialen Arbeit zu entkommen.“

Ibrahim kennt weitere Leute, denen es ähnlich erging, wie ihm selbst. In einem der beiden Projekte habe er mit einem Freund zusammengearbeitet, der ebenfalls entlassen wurde. Besonders schlimm findet er aber den Fall einer Kollegin, die sich ihm gegenüber im Vertrauen als Palästinenserin „outete“: „Alle anderen dachten, sie sei Marokkanerin. Das war eine bewusste Entscheidung von ihr, um dem aktuellen antipalästinensischen Rassismus in der sozialen Arbeit zu entkommen.“

Daniel (29) aus Frankfurt am Main

Seit 2019 hat Daniel in einem Museum in Frankfurt gearbeitet, ab 2021 auch als Guide zur Lokalgeschichte während der Nazi-Zeit. Damit aber ist seit Juni 2024 Schluss: „Ende Mai war ich einer der Pressesprecher des Palästina-Protestcamps „Hind’s Garden“ am Campus der Goethe-Uni. Am 12. und 18. Juni wurde ich dann von meiner Vorgesetzten angerufen. Sie teilte mir mit, es gebe ‚Bedenken‘ wegen meiner Äußerungen auf dem Camp und auf einer Demo und ich würde daher ‚erst einmal‘ keine Aufträge mehr als Guide und Publikumsbetreuer vom Museum bekommen. Um welche konkreten Aussagen es dabei angeblich ging, sagte sie mir allerdings nicht. Deshalb konnte ich auch keine Stellung beziehen.“ Er habe daraufhin ein Gespräch eingefordert, das ihm bis heute aber ohne Begründung verweigert worden sei.

„Sie teilte mir mit, es gebe ‚Bedenken‘ wegen meiner Äußerungen auf dem Camp und auf einer Demo und ich würde daher ‚erst einmal‘ keine Aufträge mehr als Guide und Publikumsbetreuer vom Museum bekommen.“

Daniels Eltern sind Georgier, sein Vater ist praktizierender Jude. Als Daniels Mutter mit ihm schwanger war, flüchteten sie aus ihrer Heimat. Fast wären sie damals nach Isdud/Ashdod gegangen, einer Stadt, die laut UN-Teilungsplan 1947 eigentlich zum vorgesehen arabisch-palästinensischen Staat hätte gehören sollen, von Israel aber 1948 entvölkert und annektiert wurde. Isdud/Ashdod liegt nur etwa wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Wie Daniel betont, ist er so nur knapp einem Schicksal entgangen, das ihn in ein Besatzungsregime hineingeboren hätte. Als Wehrdienstleistender hätte er selbst an der Unterdrückung der Palästinenser teilnehmen müssen. Daher ist er froh, dass sich seine Eltern anders entschieden haben. Mit Blick aus der Perspektive eines Sohns von Geflüchteten auf sein Fast-Geburtsland erklärt er, dass es Sicherheit es nur geben könne, „wenn alle Menschen frei sind und in Gleichheit leben.“

Daniel ist einer der wenigen, die sich wehren und an die Öffentlichkeit gehen. Einen offenen Brief an das Museum unter dem Motto „Lasst Daniel wieder arbeiten“ haben mittlerweile mehr als 1.500 Personen und 45 Organisationen und Parteien unterzeichnet. Darunter sind zahlreiche Wissenschaftler und Professoren, Lehrer und Pädagogen, Politiker und Kulturschaffende. Eine Auseinandersetzung hatte sich parallel dazu in der Stiftung entwickelt, bei der Daniel bis zum Sommer Stipendiat war. Er hatte unter seinen Mitstipendiaten um Solidarität geworben und einige hatten den offenen Brief unterzeichnet. Daraufhin sei ihnen gegenüber angedeutet worden, sie könnten ihre Stipendien verlieren, wenn sie ihre Unterschrift nicht zurückzögen. In einer Erklärung der Stipendiatischen Konferenz, die dem MiGAZIN vorliegt, wird das Vorgehen der Stiftung kritisiert. Darin wirft die Konferenz den Verantwortlichen vor, Daniel zu „stigmatisieren“, eine offene Diskussion unter den Stipendiaten zu „untersagen“ und den „mutmaßlichen Genozid in Gaza“ zu verharmlosen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Israel & Palästina – Zeitschrift für für Dialog. Die aktuelle Ausgabe hat den Schwerpunkt „Palästinenser:innen in Deutschland“ und enthält u. a. weitere Reportagen und Interviews. Der Text wurde für das MiGAZIN redaktionell überarbeitet.

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  1. Moritz sagt:

    Ich finde den Artikel richtig gut. Er zeigt schön wie schnell Kritik unterdrückt wird und das schadet halt leider sehr der Meinungsfreiheit. Nur weil man „die falsche Meinung“ vertritt…