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Debatte
Dann reden wir mal über Vollzugsdefizite!
Seit Aschaffenburg streift ein Wort durch Deutschland: „Vollzugsdefizit“. Gemeint sind ausschließlich nicht durchgeführte Abschiebungen. Dabei gibt es viele Vollzugsdefizite, die nie zur Sprache kommen. Darüber sollten wir jetzt mal reden.
Von Birol Kocaman Mittwoch, 19.02.2025, 11:44 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.02.2025, 11:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Politik hat es wiederentdeckt: das „Vollzugsdefizit“. Gemeint sind gewalttätige Asylbewerber, die nicht abgeschoben oder inhaftiert wurden. So zumindest die Logik der aktuellen politischen Debatte nach Aschaffenburg. Dass in der deutschen Asylpolitik Vollzugsdefizite allerdings keine Einbahnstraße sind, fällt dabei unter den Tisch.
Denn wer konsequent Rechte durchsetzen will, sollte nicht nur den repressiven Teil, sondern auch die Schutzpflichten des Staates betrachten. Und da gibt es reichlich Nachholbedarf. Wer nur die eine Seite betont, aber die andere Seite ignoriert, betreibt keinen Rechtsstaat – sondern Rosinenpickerei mit politischer Agenda.
Menschen, die nach Deutschland flüchten, haben Rechte. Sie haben das Recht auf ein faires Verfahren, auf medizinische Versorgung, auf menschenwürdige Unterbringung. Diese Rechte stehen nicht in irgendeiner idealistischen Wunschliste, sondern sind gesetzlich und völkerrechtlich verbrieft. Nur: Ihre Umsetzung? Ein einziges Vollzugsdefizit!
Jahrelang leben Asylbewerber in Deutschland in Massenunterkünften ohne Privatsphäre, in beengten und unhygienischen Räumlichkeiten. Obwohl nachgewiesen ist, dass diese Bedingungen die psychische Gesundheit angreifen, gibt es keine Abhilfe. Ähnliches auch beim Thema Familie – ein verfassungsrechtlich geschütztes Gebilde: Es ist nachgewiesen, dass Menschen, die mit ihren Familien zusammenleben, weniger anfällig sind für psychische Krankheiten. Abhilfe? Fehlanzeige.
„Stellen Sie sich vor, Sie werden beschuldigt, Gerichte zu belasten, weil Sie sich gegen eine fehlerhafte Kündigung wehren. Nichts anderes tun Asylbewerber.“
Das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsschutz in angemessener Zeit ist ebenfalls keine freundliche Empfehlung, sondern eine Vorschrift. Realität? Menschen warten viele Jahre in gesundheitszermürbenden Prozessen auf eine Entscheidung, oft in kompletter Unsicherheit über ihre Zukunft. Grund: überlastete Verwaltungsgerichte. In Diskussionen werden aber nicht Personalmangel oder Systemversagen beklagt, also ein „Vollzugsdefizit“, sondern Menschen, die mit ihren Anträgen das Justizsystem belasten. Stellen Sie sich vor, Sie werden beschuldigt, Gerichte zu belasten, weil Sie sich gegen eine fehlerhafte Kündigung wehren. Nichts anderes tun Asylbewerber.
Der Gipfel der Dreistigkeit in dieser Debatte ist, dass kein Wort über Vollzugsdefizite in der gesundheitlichen Versorgung von Geflüchteten gesprochen wird. Psychisch erkrankte Geflüchtete werden in Deutschland systematisch ignoriert. Es gibt kaum Therapieplätze, psychosoziale Zentren sind heillos überlastet. Doch dass die Versorgung von besonders schutzbedürftigen Menschen laut EU-Recht sichergestellt werden müsste? Geschenkt. Dass ein nicht behandeltes Trauma zu Problemen führen kann? Ach was. Lieber nach Abschiebung schreien, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.
„Willkommen in Deutschland, wo man Integration fordert und gleichzeitig Integration erschwert und sich anschließend beschwert, dass es nicht funktioniert.“
Ein weiterer Punkt: Der Zugang zu Sprachkursen ist oft zäh, Arbeitsverbote schieben Menschen in die Perspektivlosigkeit. Dabei wäre es sogar wirtschaftlich klüger, Geflüchtete schnell in Jobs zu bringen. Doch anstatt diesen Missstand zu beheben, wird an neuen Hürden gefeilt. Willkommen in Deutschland, wo man Integration fordert und gleichzeitig Integration erschwert und sich anschließend beschwert, dass es nicht funktioniert.
Noch schlimmer: Der mangelnde Schutz vor Rassismus und Diskriminierung. Während die Antidiskriminierungsstelle seit Jahren lauthals Verbesserungen fordert, bleibt die Politik im Tiefschlaf. Konsequente Maßnahmen? Fehlanzeige. Hass, Hetze und strukturelle Benachteiligung werden weiterhin ignoriert – wohl auch, weil sie nicht in das politische Kalkül jener passen, die sich sonst so gerne an „Vollzugsdefiziten“ abarbeiten.
„Viel zu oft, werden die Täter „nicht gefunden“. Und wenn doch, ist ihre Chance hoch, dass sie einen verständnisvollen Richter antreffen und mit milden Strafen davonkommen.“
Noch mehr? Bitte: Flüchtlingsunterkünfte werden in Deutschland angegriffen, Menschen werden auf offener Straße bedroht, beleidigt und bespuckt. Die meisten Verfahren werden in solchen Angelegenheiten ergebnislos eingestellt. Viel zu oft werden die Täter „nicht gefunden“. Und wenn doch, ist ihre Chance hoch, dass sie einen verständnisvollen Richter antreffen und mit milden Strafen davonkommen. In solchen Kontexten ist nie die Rede von „Vollzugsdefiziten“. Dabei geht es auch hier nicht um Goodwill, sondern Schutzpflichten des Staates.
„Wären die vielen Vollzugsdefizite nicht so eklatant – bei der Unterbringung, bei der Gesundheitsversorgung, bei der Integration, bei Rassismus – wer weiß, vielleicht hätte es Aschaffenburg nie gegeben.“
„Vollzugsdefizit“ ist zu einem Kampfbegriff geworden – ein politisches Werkzeug, um Härte zu demonstrieren. Wer ihn benutzt, zeigt aber nicht etwa eine neue Sensibilität für den Rechtsstaat, sondern folgt einer Logik, die Menschenrechte nur selektiv anerkennt. Ein Rechtsstaat misst sich aber nicht daran, wie schnell er Menschen loswird, sondern daran, wie konsequent und umfassend er ihre Rechte schützt. Andernfalls ist es kein Rechtsstaat, sondern einfach nur Rechts.
Wären die Vollzugsdefizite nicht so eklatant – bei der Unterbringung, bei der Gesundheitsversorgung, bei der Integration, bei Rassismus – wer weiß, vielleicht hätte es Aschaffenburg nie gegeben. Solange die Politik Symptome verwaltet und keine Ursachen bekämpft, bleibt eines gewiss: Das nächste „Vollzugsdefizit“ kommt bestimmt. Meinung
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