Joel Schülin, Architekt, Urbanist, Visual Researcher, MiGAZIN, Kolumne
Joel Schülin, Architekt und Visual Researcher © MiG

Brandmuster

Von Brandreden zu Brandsätzen zu Brandreden

Was deutsche Politiker:innen und Medienhäuser nicht aus der Asyldebatte der 90er Jahre gelernt haben – ein Nachtrag zum Wahlkampfthema Migration und seine Folgen.

Sonntag, 09.03.2025, 10:10 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 09.03.2025, 10:31 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Es ist vollbracht. Der Bundestag ist gewählt, Koalitionsverhandlungen im Prozess, eine faschistische Partei ist die zweitstärkste Kraft im Land des „Nie wieder“, Altparteien auf Rekordtiefs. Und Migration ist zum Kassenschlager im Bundestagswahlkampf geworden. Mal wieder.

Schon in den 80ern und 90ern wird hitzig über die steigende Migration nach Deutschland diskutiert. Ab Mitte der 1950er Jahre werden Anwerbeabkommen mit Staaten wie der Türkei, Griechenland, Marokko oder Südkorea geschlossen, um den Wiederaufbau der Nation zu beschleunigen. Viele ausländische Arbeitskräfte werden im Niedriglohnsektor angestellt.

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Das Wirtschaftswunder, das auf den Schultern migrantischer Arbeit aufbaut, erfährt mit der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre ein plötzliches Ende. Mit der steigenden Arbeitslosigkeit werden Anwerbeabkommen in Westdeutschland aufgekündigt, um die ökonomische „Belastung“, die durch die migrantische Bevölkerung entsteht, zu mindern.

Die Bezeichnung des „Gastarbeiters“ verdeutlicht das Migrationsverständnis der westdeutschen Bundesregierung – es soll ein Verhältnis auf Zeit sein. Entgegen der politischen Planung bleiben viele Personen und Familien mit Migrationsbiografie jedoch in Deutschland, trotz Strategien wie dem „Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern“ 1984, das Personen, die das Land verlassen, eine Prämie von 10.500 DM verspricht.

Nicht nur bleiben viele Menschen in Deutschland, auch steigt die Migration aufgrund internationaler Konflikte wie dem Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980 immer weiter an. Da die Einwanderung als Arbeitsmigrant:in wegen der Kündigung der Anwerbeabkommen nicht mehr ohne weiteres möglich ist, beantragen tausende Menschen Asyl.

„Die 80er Jahre bilden hier die Geburtsstunde neuer Migrationsgesetze, die migrantischen Personen im Asylprozess immense Restriktionen auferlegt.“

Die 80er Jahre bilden hier die Geburtsstunde neuer Migrationsgesetze, die migrantischen Personen im Asylprozess immense Restriktionen auferlegt. Das Asylbewerberleistungsgesetz aus dem Jahr 1993 beispielsweise ersetzt finanzielle Unterstützung für Geflüchtete durch Sachleistungen.

Mit dem neuen bürokratischen Migrationsapparat wird auch der Rassismus gegen migrantische und postmigrantische Personen zunehmend lauter und salonfähiger. Ein zentraler Bestandteil der Migrationsdebatte bildet hier die rhetorische Aufladung von Menschen auf der Flucht.

Politiker:innen und Journalist:innen sprechen von „Asylanten“, die Steuerzahler:innen Geld klauen, Mitte-Parteien zeichnen das Bild von Asylfluten, der Spiegel betitelt die Migrationswelle 1991 mit den Worten „Ansturm der Armen“.

„Kurz gesagt, Menschen auf der Flucht werden von Medien und Politik anonymisiert und objektifiziert.“

Kurz gesagt, Menschen auf der Flucht werden von Medien und Politik anonymisiert und objektifiziert. Der „Asylant“ als rassifiziertes Produkt deutscher Meinungsmache wird zum nationalen Sündenbock. „Asylmissbrauch“ wird zum Schlagwort einer sich extremisierenden und rassistischen Migrationsdebatte – ihre Wortführerin ist die CDU.

Die Lösung zur Eindämmung der Migration wird, federführend propagiert von der CDU, in der Einschränkung des Asylrechts im Grundgesetz gesehen. Nach einer mehrjährigen Asyldebatte kommt es 1993 mit den Stimmen der SPD zum Asylkompromiss, in dem entschieden wird, das Recht auf Asyl im Grundgesetz drastisch einzuschränken.

Der Prozess der Asyldebatte und ihr Ergebnis sind folgenreich: mit der rhetorischen Manifestierung des migrantischen Anderen, unterbaut durch Gesetze, die eine neue Landschaft der Segregation schaffen, eskaliert auch die Gewalt gegen Menschen mit Migrationsbiografie.

Der tödliche Brandanschlag auf Nguyễn Ngọc Châu and Đỗ Anh Lân 1980 in Hamburg-Billbrook, Duisburg-Wahnheimerort, Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen sind nur ein kleinster Bruchteil der anhaltenden Welle von Angriffen gegen nicht-weiß gelesene Menschen.

Die Geflüchtetenunterkunft, die Erstaufnahmeeinrichtung, das Aussiedlerheim und andere Formen der Lagerunterbringung von Migrant:innen bilden ab den 1980er Jahren die wortwörtliche Zementierung des Anderen, ein Ort der durch seine Zäune und grauen Fassaden in städtischen und ländlichen Randlagen ein leichtes Angriffsziel bietet.

Nach den sogenannten Baseballschlägerjahren in den 90ern, den NSU-Morden, der Eruption von Gewalt gegen Menschen mit Migrationsbiografie in den Jahren 2015 bis 2017, nach Hanau und etlichen weiteren rassistischen Angriffen, steht Migration als reißerisches Schlagwort wieder auf der Agenda des Wahlkampfes 2025. Die tragischen Vorfälle von Mannheim, Magdeburg, München und Solingen wirken hier wie Brandbeschleuniger in der Debatte um die Einschränkung irregulärer Migration.

Aber was ist mit Migration eigentlich gemeint? Anstatt Migration in einer technokratischen und sozialgerechten Art und Weise zu planen, nutzen Mitte-Parteien den populistischen Weg des „Ausländer raus“- Mantras und biedern sich dem Rassismus der Rechtspopulist:innen an. Ein leichtes Spiel mit weitreichenden Folgen.

„In den Reden der AfD, CDU, FDP und SPD verschwimmt Migration mit der Sicherheitsfrage, Abschiebung und Kriminalität.“

In den Reden der AfD, CDU, FDP und SPD verschwimmt Migration mit der Sicherheitsfrage (sind „Deutsche“ noch sicher in „diesem“ Land), Abschiebung und Kriminalität. Migration und das Konstrukt des bzw. der „Migrant:in“ werden damit wieder einmal zu einer Worthülse in einer populistischen Debatte, in der Mitte-Parteien erschreckend opportunistisch agieren, während sich die radikale Rechte in Politik und Zivilgesellschaft die Hände reibt.

Migration ist und bleibt ein rhetorisches Politinstrument, das sich keiner lösungsorientierten Mittel bedient, sondern Hetze erzeugt. Auf Kosten von Menschen mit Migrationsbiografie.

Im Jahr 2024 steigt die Anzahl von Angriffen auf Geflüchtetenunterkünfte im Vergleich zum Vorjahr wieder an. Ob man hier von einer direkten Korrelation zwischen Brandreden und Brandsätzen sprechen kann? Sicher ist, deutsche, hauptsächlich weiß-gelesene, Politiker:innen produzieren wohl wissend einen Schwelbrand. (mig) Meinung

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