Sven Bensmann, Migazin, Kolumne, Bensmann, Sven
MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Wenn jeden Tag Aschaffenburg ist

Stellt dir vor, Aschaffenburg wäre täglich. Du würdest drangsaliert werden in der Behörde, Bahn, Schule, auf der Arbeit, an Eingängen, von der Polizei. Und als wenn das nicht reichte, stell dir vor, Merz wäre Kanzler.

Von Montag, 10.03.2025, 10:51 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.03.2025, 11:28 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Taten von Aschaffenburg, München, Magdeburg – viele Deutsche fühlen sich verunsichert. Und so hat sich der Rechtsruck in Deutschland massiv beschleunigt. Menschen befürchten, hierzulande nicht mehr sicher zu sein. Doch was, wenn jeden Tag Aschaffenburg wäre?

Was, wenn einem jeder Tag das Gefühl vermittelte, hier nicht sicher zu sein? Weil ein Dutzend Ausländer mit psychischen Problemen aus verschiedenen Ecken der Welt für ein weltanschauliches Problem steht, hunderte konspirative Gruppen, Vereine und Chatboards mit rechtsextremen, verfassungsfeindlichen und rassistischen, aktiven und früheren Polizisten und Militärs aber bloß harmlose Einzelfälle sind (am 4. März gab’s erst wieder ne Razzia gegen 15 polizeiverbeamtete Einzelfälle in Hamburg wegen mehrerer zehntausend Chat-Nachrichten, in denen u.a. der Nationalsozialismus verherrlicht wurde), die sich aufgrund ihrer Profession auch nur in den wenigsten Fällen vor Gericht verantworten müssen und denen, wenn es doch mal dazu kommt, nur ein erstauntes „Aber das machen wir doch immer so!?“ über die Lippen kommt? Dass sich ebendiese Polizei einen waffengeilen Rechtsausleger mit Polizeistaatsfantasien zum Gewerkschaftsboss gewählt hat, ist ja schließlich auch Rainer Zufall und sollte nicht mit der Überzeugung derer, die ihn in dieses Amt (wieder-)gewählt haben, verwechselt werden.

___STEADY_PAYWALL___

Was, wenn es kaum möglich wäre, über den Bahnhof oder die Fußgängerzone zu schlendern oder mit dem Auto von und zur Arbeit zu fahren, ohne von bereits vertuschten oder potenziell zukünftigen Einzelfalltätern drangsaliert zu werden? Wenn jeden Tag die Medien darüber jubelten, dass Menschen, die die eigene Hautfarbe besitzen, unter Verleugnung ihrer Menschenrechte, abgewehrt oder abgeschoben werden sollen, weil der Herr von Papen, pardon, Merz, sich mit so lächerlichen Kinkerlitzchen wie rechtsstaatlichen Verfahren nicht mehr aufhalten will? Wenn weder vorbildliche Integration noch ein Job als dringend benötigte Fachkraft ausreichten, um dem – im schlimmsten Falle – indirekten Todesurteil per Abschiebeflug noch zu entgehen? Ist dann nicht längst jeder Tag ein Aschaffenburg, Berlin, Hanau?

„Die Kunst der Verunsicherungsvertreter liegt darin, uns vor Dingen Angst zu machen, die keine echte Bedrohung sind.“

Und wenn die zukünftige Kanzlerpartei unabhängige, demokratische Gruppen angreift, die gegen den Rechtsruck demonstrieren, um sie durch die unter Nazis beliebte Erzählung vom tiefen Staat zu desavouieren? Wenn diese Partei faktisch falsch behauptet, diese Gruppen seien vom Staat in irgendeiner Weise finanziert, ja sogar fremdgesteuert, um so die demokratische Zivilgesellschaft als Ganze anzugreifen und damit der AfD und der ihr vorgelagerten Schlägertrupps mehr Raum auf den Straßen zu erkämpfen? Wenn auf diese Weise einem selbst der Springerpresse zu abgefuckten Hassprediger und dessen fremdfinanziertem Fiction-Portal der Anschein von Seriosität verliehen wird, weil der diesen Fiebertraum zuvor bereits in den Äther gegoebbelt hatte? Sollte uns dann nicht dämmern, dass längst auch für alle anderen, denen an einem zivilisierten, demokratischen Umgang miteinander gelegen ist, jeder Tag Aschaffenburg ist?

Die Kunst der Verunsicherungsvertreter liegt darin, uns vor Dingen Angst zu machen, die keine echte Bedrohung sind – weil, beispielsweise, ein BMW, der auf der geschwindigkeitsunbegrenzten Autobahn plötzlich im Rückspiegel auftaucht, eine alltägliche Gefahr für Leib und Leben ist, während mir auf die Schnelle nur zwei Fälle einfallen, in denen Autos in Demonstrationen gefahren wären, nämlich der Fall von München und Charlottesville 2017, als ein Faschist in eine linke Demo raste.

Anschließend nutzen sie die so geschürte Verunsicherung, um uns von echten Bedrohungen abzulenken: mehr Ellenbogenfreiheit für gewaltbereite Polizisten zum Beispiel, Abbau von Bürgerrechten, der Entzug von Menschenrechten für Ausländer, Firmen, die Boden und Flüsse vergiften, weil die bürokratischen Hürden dafür abgebaut wurden, und nicht zuletzt der Wegfall der Lebensgrundlagen aller nachkommenden Generationen, weil man ihnen ja keine Schulden hinterlassen wollte.

Wobei, Schulden, na ja. Über ein Jahr lang hatte die selbsterklärte Partei des wirtschaftlichen Sachverstandes jeden Versuch, mehr unbedingt notwendige Investitionen für die Infrastruktur und damit die Zukunft dieses Landes zu erreichen, bekämpft. Sie hatte Wahlkampf damit gemacht, dass es mehr Schulden keinesfalls brauche – das wisse man sicher, aufgrund des eigenen großen wirtschaftlichen Sachverstandes – nur um innerhalb von nicht einmal 2 Wochen festzustellen: Sorry, wir haben uns geirrt. Wir haben ja gar keinen Sachverstand – weder in Sachen Wirtschaft, noch bei der Zukunft, der inneren Sicherheit oder sonstwo. Alles, was wir haben, sind hohle Phrasen – das lässt sich in der Opposition leicht vergessen, weil Springer ja alles beklatschen lässt, was wir so sagen. Unser Fehler. Deshalb machen wir mal lieber ganz schnell, was SPD und Grüne schon seit Monaten sagen. Sachverstand, yeah!

„Uns stehen vier Jahre bevor, in denen der Kanzler samt seiner Lakaien ganz Deutschland in Aschaffenburg verwandeln will.“

Und natürlich ließe sich den Unionswählern nun auch formidabel vor den Latz knallen: Wir haben es euch seit Monaten immer wieder gesagt. Ihr wolltet es halt nicht hören. Klar haben die euch verscheißert! Aber zum Verscheißern gehören eben immer zwei: Einer, der versucht zu verscheißern, und einer, der sich verscheißern lässt. Und bei Gott, ihr habt euch so bereitwillig verscheißern lassen! Aber erstens wäre das billig und zweitens würde es das Ausmaß, in dem die CDU/CSU ihre Wähler betrogen hat, nur verharmlosen.

Es ließen sich ebenso – wie so manch anderer es bereits getan hat – aufgrund dieser massiven, demokratieaushöhlenden Wählertäuschung der Rücktritt Merz’ und Neuwahlen fordern. Aber so wie das Verscheißern setzt auch das Appellieren an die Moral immer zwei Seiten voraus: Eine, die an die Moral appelliert, und eine, die eine Moral hat, an die sich appellieren ließe. Seh ich aber eher nicht so bei der Union.

Bleibt nur dieses Eine: Uns stehen vier Jahre bevor, in denen der Kanzler samt seiner Lakaien ganz Deutschland in Aschaffenburg verwandeln will. Wer dieses Deutschland als sein – oder ihr – Deutschland begreift, der wird um deshalb dieses Deutschland kämpfen müssen. Jeden Tag. Nicht nur, wenn Oma Zeit hat. Meinung

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)