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Schule

Türkisch als Unterrichtssprache? Why not?

Türkisch im Unterricht? Nicht nur als Fremdsprache, sondern als Lernsprache! Warum das kein Skandal ist – sondern ein überfälliger Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit.

Von Dienstag, 01.04.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.04.2025, 9:45 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Hamburg diskutiert, ob Türkisch öfter als Fremdsprache unterrichtet werden soll. Gut so – aber das reicht nicht. Wer gleiche Bildungschancen will, muss weitergehen: Türkisch gehört als Unterrichtssprache ins Klassenzimmer. Und zwar früh. Ich sage das nicht nur als Lehrer, der täglich mit mehrsprachigen Kindern arbeitet, sondern auch als Sprachwissenschaftler: Wer die Sprache der Kinder versteht und anerkennt, versteht auch, wie Lernen wirklich funktioniert.

Türkisch als Fremdsprache? Gut. Türkisch als Unterrichtssprache? Besser.

Der Unterschied: Im ersten Fall ist Türkisch ein Schulfach. Im zweiten Fall ein Werkzeug – um Mathe zu lernen, Sachkunde zu verstehen, Musik zu erleben. Die Kinder lernen auf einer Sprache, die sie beherrschen. Das macht Schule leichter.

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Lernen beginnt mit Verstehen

Kinder lernen besser, wenn sie verstehen, was man ihnen sagt. Klingt banal – wird aber oft übersehen. Viele Kinder kommen mit Türkisch in die Schule. Doch der Unterricht beginnt auf Deutsch. Eine Sprache, die sie erst noch lernen müssen.

„Wer sich sprachlich nicht sicher fühlt, schaltet ab. Der Unterricht rauscht vorbei.“

Als Lehrer sehe ich es täglich: Kinder sagen lieber nichts, als etwas Falsches. Sie schweigen aus Angst vor Fehlern. Wer sich sprachlich nicht sicher fühlt, schaltet ab. Der Unterricht rauscht vorbei.

Ich erinnere mich an eine Sechstklässlerin, die im Nawi-Unterricht plötzlich laut wurde – auf Türkisch. Sie hatte das Thema verstanden, wollte sich einbringen, aber fand die Wörter auf Deutsch nicht. In ihrer Sprache war sie stark. Auf Deutsch blieb sie stumm.

Muttersprache als Lernmotor

Forschung und Erfahrung sagen dasselbe: Wer in seiner Erstsprache lesen und schreiben lernt, begreift schneller – und überträgt dieses Wissen leichter auf andere Sprachen.

„Die Kinder sollen von Anfang an Deutsch sprechen – auch wenn sie es kaum können. Das ist uneffektiv. Und ungerecht.“

Doch oft passiert das Gegenteil: Statt die Muttersprache zu nutzen, wird sie ausgeklammert. Die Kinder sollen von Anfang an Deutsch sprechen – auch wenn sie es kaum können. Das ist uneffektiv. Und ungerecht.

Ich habe in Kamerun eine Studie begleitet. Dort wurden Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet – und lernten schneller. In Schulen, wo nur Französisch erlaubt war, blieben viele zurück. Nicht, weil sie weniger konnten. Sondern weil sie nicht mitkamen.

Schadet das dem Deutschen?

Die Frage liegt nahe. Antwort: Nein – im Gegenteil.

Wer in seiner Muttersprache lernt, hat bessere Startbedingungen. Sprache ist kein Nullsummenspiel. Wer auf Türkisch denkt, kann trotzdem Deutsch lernen – und oft sogar schneller. Vorausgesetzt, das Modell ist gut gemacht.

„Wer sich mit seiner Sprache angenommen fühlt, lernt motivierter – auch Deutsch.“

Bilinguale Konzepte zeigen: Die Sprachen helfen einander. Konzepte, die ein Kind auf Türkisch verstanden hat, kann es auf Deutsch leichter begreifen. Und: Wer sich mit seiner Sprache angenommen fühlt, lernt motivierter – auch Deutsch.

Voraussetzung ist natürlich: qualifizierte Lehrkräfte, durchdachte Konzepte, gute Materialien. Wenn das stimmt, profitieren alle.

Was anderswo längst klappt

Andere Länder zeigen, dass es geht. In Finnland lernen Kinder auf Sámi. In Südafrika beginnt der Unterricht in elf Sprachen – je nach Region. In der Schweiz wachsen Kinder mit Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch auf – je nach Kanton. Kein Chaos. Sondern Normalität.

„In den USA lernen Millionen Kinder auf Englisch und Spanisch, in Dual Language Schools, öffentlich gefördert.“

Und: Auch wo Sprachen mit den Menschen kamen, wurden sie Unterrichtssprache. In den USA etwa kam Spanisch mit der Migration – aus Mexiko, Kuba, Puerto Rico. Heute lernen Millionen Kinder auf Englisch und Spanisch, in Dual Language Schools, öffentlich gefördert. Kein Problem. Sondern ein Modell.

Die Bilanz: Wer die Muttersprache fördert, stärkt alle Sprachen.

Was jetzt zu tun ist

Wir brauchen keine Symbole – wir brauchen ein Konzept. Konkret:

  • Türkisch als Unterrichtssprache in Grundschulen mit vielen türkischsprachigen Kindern
  • Mehr bilinguale Klassen
  • Die Rückkehr der Lehramtsausbildung Türkisch an der Uni Hamburg
  • Klare Anerkennung: Türkisch gehört zu Hamburg. Und zu Deutschland.

Und: Was für Türkisch gilt, kann auch für andere Sprachen gelten – Arabisch, Kurdisch, Somali, Farsi. Wer die Realität kennt, muss Vielfalt ernst nehmen.

Und wenn viele Sprachen aufeinandertreffen?

Ein häufiger Einwand: „Was machen wir mit Klassen, in denen zehn verschiedene Sprachen gesprochen werden?“ Die Antwort: flexibel denken – nicht blockieren.

Nicht jede Schule ist gleich. In manchen Stadtteilen spricht die Mehrheit Türkisch. Dort lassen sich zweisprachige Klassen gut umsetzen. In anderen Schulen ist es bunter – da braucht es andere Lösungen.

Was möglich ist:

  • Bilinguale Klassen an Schulstandorten mit klarer Mehrheitssprache – etwa Türkisch oder Arabisch
  • Sprachförderung in Gruppen – für Kinder mit Somali, Kurdisch oder Farsi – mit Unterstützung durch Sprachassistenzen
  • Mehrsprachige Teams: Zwei Lehrkräfte im Klassenzimmer – eine spricht Deutsch, die andere unterstützt auf Türkisch
  • Translanguaging: Eine Matheaufgabe wird auf Deutsch gestellt, aber auf Türkisch erklärt. Dann wieder auf Deutsch besprochen. Die Sprachen arbeiten zusammen – nicht gegeneinander
  • Digitale Hilfen: Apps, mehrsprachige Lernplattformen und Arbeitsblätter helfen, Lernstoff in der Herkunftssprache zu verstehen

Niemand sagt, dass jede Sprache gleich viel Raum bekommt. Aber: Keine Sprache darf ignoriert werden.

Fazit

Ein gutes Bildungssystem macht die Sprache der Kinder nicht zum Problem, sondern zur Stärke. Es baut auf, was sie mitbringen – statt es zu verdrängen.

Wer Kinder ernst nimmt, muss auch ihre Sprache ernst nehmen. Meinung

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