
Nahost
Was will Israel im Gazastreifen erreichen?
Die israelische Armee dringt immer weiter vor im Gazastreifen, die Zahl der Toten schnellt wieder in die Höhe. Welche Ziele verfolgt Israel auf lange Sicht in dem zerstörten Küstenstreifen?
Von Sara Lemel Dienstag, 08.04.2025, 13:18 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 08.04.2025, 13:18 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Seit mehr als einem Monat lässt Israel keine lebenswichtigen humanitären Hilfsgüter mehr in den abgeriegelten Gazastreifen. Dies verschärft nach Angaben von Hilfsorganisationen das Leid der Zivilbevölkerung erheblich. Sie warnen eindringlich davor, humanitäre Hilfe zur Kriegswaffe zu machen. Nach zwei Monaten Dauer ist auch die Waffenruhe vorbei und die israelische Armee hat ihre massiven Angriffe wieder aufgenommen. Die Zahl der Todesopfer ist seitdem erneut in die Höhe geschnellt.
Das erklärte Ziel der israelischen Regierung formulierte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erst wieder bei einem Treffen mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus am Montag: „Wir sind entschlossen, alle Geiseln freizubekommen, aber auch die böse Herrschaft der Hamas in Gaza zu beseitigen.“ Inzwischen kontrollieren die israelischen Streitkräfte weite Teile des weitgehend zerstörten Gazastreifens.
Israel und die Hamas führen unter Vermittlung der USA, Katars und Ägyptens indirekte Gespräche über eine neue Waffenruhe im Gazastreifen. Das zentrale Problem: Die Hamas ist nur zur Freilassung der verbleibenden 24 Geiseln und Übergabe der 35 Leichen von Entführten bereit, wenn Israel einem vollständigen Kriegsende zustimmt. Dies will Israel aber nur dann tun, wenn die Hamas ihre langjährige Herrschaft im Gazastreifen aufgibt.
Was verfolgt Israel langfristig im Gazastreifen?
Das langfristige Ziel Israels sei nicht eindeutig, sagte Michael Milshtein, Experte für palästinensische Studien an der Universität Tel Aviv, der Deutschen Presse-Agentur. „Das Motto war am Anfang militärischer Druck, um die Hamas zu mehr Flexibilität (bei den Verhandlungen) zu bewegen.“ Trotz harter Schläge gegen die Hamas sei dies bislang nicht geschehen. Gleichzeitig erobere die Armee immer weitere Teile des Küstenstreifens. „Und wir nähern uns schon einer Wiedereroberung Gazas“, so Milshtein.
Große Sorge bereite ihm die Möglichkeit, dass die rechtsreligiöse Regierung von Ministerpräsident Netanjahu im Gazastreifen eine „versteckte Agenda“ verfolgen könnte, etwa die Eroberung Gazas und die Einrichtung einer Militärverwaltung. Sollte dies geschehen, werde es sich auf Jahre stark auf das Leben aller Israelis auswirken, warnte er.
Auch der israelische Sicherheitsexperte Ofer Guterman sagte in einem Podcast, viele Menschen fragten sich, was die „wahren Ziele“ der Regierung seien. Es bestehe die Sorge, persönliche Erwägungen Netanjahus, gegen den seit Jahren ein Korruptionsprozess läuft, könnten den Entscheidungsprozess im Gaza-Krieg beeinflussen.
Wird eine Ausreise von Palästinensern aus Gaza angestrebt?
Netanjahu bekräftigte zuletzt, Ziel seiner Regierung sei es, den Plan von US-Präsident Trump für den Gazastreifen umzusetzen. Trump hatte Anfang Februar gesagt, die USA wollten den Gazastreifen übernehmen, das weitgehend kriegszerstörte Gebiet wieder aufbauen und zu einer „Riviera des Nahen Ostens“ machen. Die mehr als zwei Millionen Palästinenser müssten umgesiedelt werden. Trumps Äußerungen lösten in der arabischen Welt und darüber hinaus Empörung aus. Der Präsident sagte später, die Palästinenser sollten nicht gewaltsam vertrieben werden.
Netanjahu lobte Trumps Plan als „mutige Vision“. Er sagte, man wolle „den Menschen in Gaza die freie Entscheidung (…) ermöglichen, wohin sie gehen wollen“.
Milshtein sagte dazu, er habe den Eindruck, dass die israelische Führung gegenwärtig „Fantasien oder Illusionen einer geregelten Politik vorzieht“. Er sehe die Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung des Trump-Plans für den Gazastreifen bei null. „Es gibt keine Ausreisewelle aus dem Gazastreifen.“ Es gebe auch keine realistische Möglichkeit einer Aufnahme durch Drittländer.
Auch Guterman sieht eine „freiwillige Migration“ aus dem Gazastreifen nicht als realistische Strategie. „Der jüdische Staat sollte sich fragen, ob dies in Ordnung ist – nicht nur mit Blick auf unsere Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft“, sagte er. „Wir müssen uns fragen, wenn man den Großteil von Gaza zerstört hat, wenn man sie aktiv zum Verlassen des Gebiets ermutigt, ist es dann wirklich freiwillig? Ich denke, viele auf der Welt würden es als ethnische Säuberung ansehen.“
Möchte Israel den Gazastreifen besetzen?
Rechtsextreme Koalitionspartner Netanjahus fordern seit längerem eine Wiederbesetzung und Wiederbesiedlung des Gazastreifens, aus dem Israel sich vor 20 Jahren zurückgezogen hat. Und Trump als wichtigster internationaler Verbündeter Netanjahus sagte: Israel hätte das „unglaublich wichtige Stück Grundbesitz“ – als das er das Kriegsgebiet bezeichnet – nicht aufgegeben sollen.
Milshtein warnt vor den Folgen einer Wiederbesetzung. Diese würde enorme wirtschaftlichen Kosten verursachen, „und man müsste über zwei Millionen Menschen herrschen, in einem völlig zerstörten Gebiet“. Israel wäre dann für alle Grundbedürfnisse der Bevölkerung zuständig. Milshtein sprach von Kosten in Milliardenhöhe.
Für eine Wiederbesetzung wären nach seinen Worten noch deutlich mehr Soldaten notwendig. Aber unter israelischen Reservisten sinke die Bereitschaft, „in einem Krieg zu kämpfen, dessen Ziel ihnen nicht klar ist“. „Eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens würde die Gesellschaft in Israel in ihren Grundfesten erschüttern.“
Das erklärte Vorhaben der Regierung, gleichzeitig die Geiseln zu befreien und die Hamas zu besiegen, hält Mishtein für unrealistisch. „Es kann gut sein, dass sich die Regierung für eine Eroberung Gazas entschieden hat.“ In dem Fall gehe er aber nicht davon aus, dass Geiseln in den Händen der Hamas am Leben bleiben werden.
Warum teilt die Armee den Gazastreifen in drei Teile auf?
Israelische Truppen sind zuletzt in den sogenannten Morag-Korridor vorgerückt, der die Städte Rafah und Chan Junis im Süden des Küstengebiets voneinander trennt. Zusammen mit dem weiter nördlich gelegenen Netzarim-Korridor entsteht so faktisch eine Dreiteilung des Gazastreifens. Verteidigungsminister Israel Katz sprach von eroberten Gebieten, die als israelische „Sicherheitszonen“ dienen sollen.
Milshtein sprach von einem möglichen Versuch, eine breitere Pufferzone zwischen dem Gazastreifen und der ägyptischen Sinai-Halbinsel zu schaffen – mit dem Ziel, „alles zu kontrollieren, was in den Gazastreifen kommt und ihn verlässt“.
Ist die Zerstörung der Hamas ein realistisches Ziel?
Guterman glaubt, die israelische Armee könne die Hamas binnen einiger Jahre zwar massiv dezimieren, aber nicht komplett zerstören. „Die Hamas ist keine externe Kraft, sondern tief im Gazastreifen verwurzelt.“ Man könne sie nicht beseitigen, ohne etwas Neues zu pflanzen, sagte er – etwa eine gemäßigte palästinensische Führung. Eine solche habe jedoch nur eine echte Chance, wenn die Hamas vollständig entwaffnet werde.
Die Bewohner des Gazastreifens müssten eine echte Perspektive für eine bessere Zukunft erhalten, sagte Guterman. Dafür müsse man auch die moderaten arabischen Staaten einbinden. „Israelis und Palästinenser sind an einem Punkt angelangt, wo wir unsere Probleme nicht mehr alleine lösen können“, sagte Guterman. „Wir brauchen Hilfe von außen.“
Es gibt aber auch mahnende Worte, dass die Hamas gestärkt wird durch die bisherige Kriegsführung Israels mit Zehntausenden Toten auf palästinensischer Seite. Das Leid der Menschen spiele der Hamas in die Hände, weil sie für mehr Zulauf sorge. Menschen, die ihre Familien, ihr Hab und Gut verloren haben, hätten irgendwann nichts mehr zu verlieren und zögen mit der Hamas in den Krieg. Sollten zudem die Besatzungspläne umgesetzt werden, würde der Unmut der Opfer noch größer werden. (dpa/mig) Aktuell Ausland
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