
Scharfe Kritik
Das steht im Koalitionsvertrag zur Migrationspolitik
Sechseinhalb Wochen nach der Bundestagswahl steht der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Auf 144 Seiten treffen die drei Parteien zahlreiche Festlegungen zur Migrationspolitik. Das sind die wichtigsten Änderungen – und die Kritik dazu.
Donnerstag, 10.04.2025, 15:33 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.04.2025, 15:33 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Die Koalition aus CDU, SPD und CSU will nach eigener Formulierung „Migration ordnen und steuern und irreguläre Migration wirksam zurückdrängen“. Besondere Betonung legt sie auf das Wort „Begrenzung“, das als Ziel wieder ausdrücklich ins Aufenthaltsgesetz geschrieben werden soll. Angekündigt wird ein „anderer, konsequenterer Kurs“, wobei gleichzeitig auch dieser Satz festgeschrieben wurde: „Das Grundrecht auf Asyl bleibt unangetastet.“ Bekämpfung von „Fluchtursachen“ wird im Koalitionsvertrag eher neben erwähnt – und sehr vage. Das wurde konkret vereinbart:
Zurückweisungen von Asylbewerbern an der Grenze
Es ist seit Jahren ein Streitfall, nun will es die schwarz-rote Koalition machen: Auch Asylsuchende sollen künftig an den deutschen Grenzen zurückgewiesen werden. Bislang wird das nur für Menschen praktiziert, die kein gültiges Visum oder eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis haben, nicht für Schutzsuchende. Die Zurückweisungen sollen „in Abstimmung mit den europäischen Nachbarn“ erfolgen. Man sei bereits „in engem Dialog“, sagte CDU-Chef Friedrich Merz bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags. Rechtlich sind die Zurückweisungen Schutzsuchender umstritten, weil etwa nach dem Europarecht jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, ein Asylbegehren zumindest auf die Frage hin zu prüfen, welches Land zuständig ist.
Stopp von Aufnahmeprogramme
Humanitäre Aufnahmeprogramme wie etwa das für Ortskräfte und Menschenrechtler in Afghanistan eingerichtete Kontingent sollen „soweit wie möglich“ beendet werden. Neue Programme, mit denen besonders Schutzbedürftige direkt ausgeflogen werden, wollen Union und SPD laut Koalitionsvertrag nicht auflegen. Zum UN-Resettlement-Programm, über das besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Camps in sichere Länder gebracht werden, findet sich nichts. Deutschland beteiligt sich seit vielen Jahren daran.
Familiennachzug aussetzen
Der Familiennachzug zu Menschen mit subsidiärem Schutzstatus soll für zwei Jahre ausgesetzt werden. Seit 2018 können enge Angehörige dieser Flüchtlingsgruppe über ein Kontingent aufgenommen werden, das 1.000 Plätze pro Monat umfasst. Zuletzt kamen nach Angaben des Auswärtigen Amts mehrheitlich Minderjährige darüber nach Deutschland. Subsidiären Schutz erhalten Menschen, die nicht direkt individuell verfolgt werden, in der Heimat aber etwa wegen eines Konflikts an Leib und Leben bedroht sind. In Deutschland geht es dabei vor allem um Syrerinnen und Syrer.
Abschiebungen
Schwarz-rot will auch die Zahl der Abschiebungen weiter steigern. Ein Ansatz ist dabei, Herkunftsländer zur Rücknahme ihrer Staatsangehörigen zu bewegen. Dabei sollen laut Koalitionsvertrag künftig auch Politikfelder wie Visa-Vergabe, Entwicklungszusammenarbeit sowie Wirtschafts- und Handelsbeziehungen herhalten. Zudem soll der erst in der vergangenen Wahlperiode eingeführte, verpflichtend beigestellte Rechtsbeistand vor einer Abschiebung wieder abgeschafft werden.
Kein Bürgergeld mehr für Ukraine-Flüchtlinge
Eine zentrale Erleichterung für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine soll wieder rückgängig gemacht werden. Es werde für sie künftig kein Bürgergeld mehr geben. Flüchtlinge aus der Ukraine durchlaufen auf Grundlage einer Vereinbarung in der EU kein formelles Asylverfahren. Das sollte aufgrund der Fluchtbewegung nach dem russischen Angriff auf das Land von Bürokratie entlasten. Dadurch erhalten sie anders als andere Asylbewerber auch sofort die normale Grundsicherung und nicht die niedrigeren Asylbewerberleistungen. Für Flüchtlinge aus der Ukraine, die seit diesem April nach Deutschland gekommen sind, soll sich das den Plänen der Parteien zufolge nun ändern. Die reduzierten Asylbewerberleistungen dürfen allerdings nur für eine begrenzte Zeit gezahlt werden. Spätestens anerkannte Flüchtlinge erhalten die normale Grundsicherung, beispielsweise aber auch Asylbewerber in besonders langen Asylverfahren.
Westbalkanregelung – Begrenzung von Arbeitsmigration
Die Zahl der Arbeitskräfte, die über die sogenannte Westbalkanregelung nach Deutschland kommen, soll stärker begrenzt werden. Die maximale Zahl von Einreiseerlaubnissen über dieses Programm soll auf 25.000 Menschen pro Jahr reduziert werden. Die Ampel-Koalition hatte das jährliche Kontingent auf 50.000 verdoppelt. Wer aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien oder Serbien stammt und über die Westbalkanregelung nach Deutschland kommen will, muss vorab einen Arbeitsvertrag vorweisen. Von der Regelung können auch ungelernte Arbeitskräfte profitieren. Die Erlaubnis für eine Arbeitsaufnahme in Deutschland muss im Herkunftsland beantragt werden. Die Regelung war eingeführt worden, um Menschen aus diesen Staaten davon abzuhalten, hierzulande grundlos Asyl zu beantragen. Zum Stichtag 30. November 2024 lebten mit einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung insgesamt rund 79.500 Menschen in Deutschland, die bei ihrer Einreise von der Westbalkanregelung profitiert hatten.
Aus für Einbürgerung nach drei Jahren
Nicht durchsetzen konnten sich CDU/CSU mit ihrer Forderung nach Rückgängigmachung der von den Ampel-Parteien verabschiedeten Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Hier soll laut Koalitionsvertrag alles so bleiben, wie es ist. Einzige Ausnahme: Die Einbürgerung schon nach drei Jahren für Menschen, die besondere Integrationsleistungen nachweisen können – wie etwa ehrenamtliches Engagement oder hervorragende Sprachkenntnisse – soll wieder gestrichen werden.
Entwicklungsministerium soll bleiben
Positives zu vermelden gab es – zumindest mittelbar – in puncto Fluchtursachenbekämpfung. Auch unter der neuen Bundesregierung soll ein eigenständiges Entwicklungsministerium erhalten bleiben – allerdings oll es eine „bessere Zusammenarbeit“ von Auswärtigem Amt, Entwicklungs- und Verteidigungsministerium geben. Zugleich kündigten die Koalitionäre eine „angemessene Absenkung“ der öffentlichen Entwicklungshilfe an. Dennoch zeigten sich Nichtregierungsorganisationen erleichtert über das Fortbestehen des Ministeriums. Das sei ein bedeutendes Signal für Entwicklung, Frieden, Konfliktprävention und für den Einsatz zur Linderung von Hunger und Armut.
Union und SPD wollen deutsches Lieferkettengesetz streichen
Dafür soll allerdings das deutsche Liefergesetz gestrichen werden – zur Entlastung der Wirtschaft. Es soll ersetzt werden durch ein Gesetz über die internationale Unternehmensverantwortung. Die Berichtspflicht nach dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz soll unmittelbar abgeschafft werden und entfällt komplett. Das seit Anfang 2023 geltende Lieferkettengesetz soll sicherstellen, dass bei Produkten, die im Ausland für den deutschen Markt hergestellt werden, Menschenrechte, Arbeits- und Umweltstandards eingehalten werden. Vor wenigen Monaten war ein europäisches Lieferkettengesetz beschlossen worden, das von den EU-Staaten binnen zwei Jahren umgesetzt werden muss. Die europäische Regelung wird allerdings voraussichtlich ein Jahr später in Kraft treten, nachdem das Europaparlament vor Kurzem den Weg freigemacht hat für eine Verschiebung.
NSU-Dokumentationszentrum kommt nach Nürnberg
Der selbsternannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) wird im Koalitionsvertrag an einer Stelle erwähnt. „Wir schaffen ein NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg“, heißt es dazu. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) ermordete zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen. Neun der Opfer hatten einen Migrationshintergrund. Erst nach dem Auffliegen der Terrorzelle im Jahr 2011 erkannten die Ermittler die rassistischen und rechtsextremistischen Motive. In Nürnberg erschossen die NSU-Täter am 9. September 2020 Enver Şimşkek, am 13. Juni 2001 Abdurrahim Özüdoğru und Ismail Yaşar am 9. Juni 2005. Einen Bombenanschlag in seinem Nürnberger Lokal überlebte Mehmet O. am 23. Juni 1999 schwer verletzt.
Reaktionen zum Koalitionsvertrag
Mit Erleichterung und einer Mahnung hat die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) auf den Koalitionsvertrag reagiert. Mindestens einen Schönheitsfehler habe der Vertrag: „Unter 19 Spitzenpolitikern, die den Vertrag verhandelt haben, war nur leider kein einziger, der aus persönlicher Erfahrung wüsste, worauf es ankommt bei der Einwanderungsfreundlichkeit“, erklärte der TGD-Bundesvorsitzende, Gökay Sofuoglu. Er rief die Koalitionäre nun auf, zumindest bei der Besetzung der Kabinettsposten dafür zu sorgen, dass dort auch Menschen mit Migrationshintergrund einen Platz finden.
Der Verbandsvorsitzende bedauert, dass Menschen mit Migrationsgeschichte im Koalitionsvertrag lediglich da erwähnt werden, wo es um die Gewinnung von Soldaten geht, nicht aber bei der Förderung von Führungskräften. Von Muslimen sei gar nicht die Rede, kritisiert er. Der Islam komme ausschließlich im negativen Kontext vor.
Einseitige Darstellung von Muslimen
So sieht es auch der Zentral der Muslime in Deutschland (ZMD). Ein zentraler Teil der Gesellschaft bleibe im Koalitionsvertrag unerwähnt: Musliminnen und Muslime. Besonders gravierend sei das vollständige Fehlen einer expliziten Benennung von antimuslimischem Rassismus. Muslimisches Leben werde im Vertrag nicht einmal erwähnt. Stattdessen tauche der Begriff „Islam“ ausschließlich im Zusammenhang mit Islamismusbekämpfung und Sicherheitsbedrohung auf. „Diese einseitige Darstellung transportiert ein verzerrtes Bild – und setzt ein falsches politisches Signal“, heißt es in einer Erklärung des ZMD.
Die TGD-Co-Vorsitzende, Aslihan Yesilkaya-Yurtbay, sagte, es sei gut, dass ein klares Bekenntnis zum bedingungslosen Schutz von Jüdinnen und Juden in Deutschland in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden sei. „Angesichts der explodierenden Zahlen im Bereich der rassistischen Übergriffe hätte ich mir gewünscht, dass auch Schwarze Menschen, Muslime und Sinti und Roma eine vergleichbare Berücksichtigung im Text erfahren“. Was ihr noch mehr fehle, sei „ein überzeugendes sicherheitspolitisches Konzept gegen Rechtsextremismus, das uns allen das Gefühl vermittelt, wir können in Deutschland eine sichere Zukunft planen“. (epd/dpa/mig) Leitartikel Politik
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