Unüberhörbar für alle
Wie zwei minderjährige Geflüchtete von einer Zahnärztin behandelt wurden
"Na dann wollen wir mal hoffen, dass wir überhaupt etwas finden". Anschließend murmelt sie irgendwas mit "Schule schwänzen" vor sich hin, bittet Mohammed ins Behandlungszimmer – und lässt die Tür so weit offen, sodass auch die drei weiteren Patienten im Wartezimmer die Erstuntersuchung mitverfolgen können.
Von Martin Gommel Montag, 23.10.2017, 6:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.10.2017, 13:58 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Zahnarztbesuch. Mohammeds* Gesicht läuft hochrot an und er sieht aus, als hätte er Fieber. Zusammen mit Amin* und Praktikantin Astrid* wartet er völlig versteinert im Wartezimmer auf die Erst-Untersuchung und hält sich beide Hände vors Gesicht. Der siebzehnjährige, dünne Afghane leidet seit Jahren unter Panik-Attacken vor Krankenhäusern und Arztbesuchen, die er nicht kontrollieren kann.
Als die Jugendlichen mit Astrid ins Vorzimmer gebeten werden, betritt die Zahnärztin persönlich den Raum, schaut Amin und Muhammed kurz an und zischt dann feindselig:
„Na dann wollen wir mal hoffen, dass wir überhaupt etwas finden“. Anschließend murmelt sie irgendwas mit „Schule schwänzen“ vor sich hin, bittet Mohammed ins Behandlungszimmer – und lässt die Tür so weit offen, sodass auch die drei weiteren Patienten im Wartezimmer die Erstuntersuchung mitverfolgen können.
Unüberhörbar wimmert Muhammed vor sich hin und verweigert, seinen Mund zu öffnen. Er fordert ein, jedes einzelne Besteck erklärt zu bekommen. „Was ist das? Bitte sagen“ – „Das ist doch nur ein Q-Tip!“ hallt es durch Praxis. Mohammed weiß nicht, was ein Q-Tip ist – aus seiner Perspektive könnte das Wattestäbchen mit giftiger Tinktur getränkt sein.
Nach zähem Hin-und-Her öffnet Muhammed den Mund und die Ärztin stellt verwundert fest, dass alle umliegenden Wurzeln um den Weisheitszahn entzündet sind. So viel zum Thema „Schule schwänzen“.
Der selbstbewusste Amin hat überhaupt keine Angst. Noch nicht. Amin ist ein etwas untersetzter aber durchtrainierter Boxer, trägt eine modische Frisur mit Undercut und hat mit seinen 15 Jahren überhaupt keine Probleme damit, Bedürfnisse zu äußern.
Auch seine Behandlung erfolgt unüberhörbar für alle Anwesenden mit offener Türe. Zum Ende der Untersuchung schickt ihn die Medizinerin ins Wartezimmer und erklärt der überforderten Praktikantin Astrid in herablassendem Tonfall:
„So etwas habe ich noch nie gesehen! Der Junge hat einen Kiefer wie ein Eingeborener! Er wird in Zukunft große Probleme bekommen.“ Amin steht betreten daneben, guckt auf den Boden und weiß gar nicht, wie ihm zumute ist. Noch Tage nach der Behandlung wird er uns Betreuer_innen mit großen Augen erklären, dass sein Gebiss schlecht ist und er nun besorgt ist. Nur mit großer Mühe können wir ihn beruhigen.
*Namen geändert
Leitartikel Panorama[Ich bin nicht nur Fotograf, sondern auch ausgebildeter Jugend-und-Heimerzieher und betreue minderjährige Geflüchtete, die ohne Eltern nach Deutschland kamen. Diesen Bericht habe ich in Zusammenarbeit mit Astrid erstellt, ich war persönlich nicht dabei.]
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