Österreichs Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz
Es gibt viele offene Fragen, sagt der Hausverstand
In Österreich gilt seit dem 1. Oktober das Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz. Danach ist es verboten in der Öffentlichkeit seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände so zu verhüllen, dass man nicht mehr erkennbar ist. Das sorgt für Irritationen und wirft Fragen auf. Einige davon hat Yeliz Dağdevir formuliert:
Von Yeliz Dağdevir Dienstag, 24.10.2017, 6:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.10.2017, 16:40 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür. Als verwirrte, besorgte und verfrorene österreichische Bürgerin möchte ich mich über das witterungsabhängige sowie schleierhafte Gesetz genauer informieren und bitte Sie, unsere Gesetzgeber, um Aufklärung folgender komplexer Sachverhalte:
- Um welche Form von verbotenen Schals handelt es sich eigentlich: gibt es da eine gesetzliche Vorgabe in Bezug auf Länge, Breite, Material und Farbe? Sind beispielsweise regierungsfarbene Schals erlaubt?
- Sind Wollhauben, die den Mund miteinschließen, auch vom Gesetz betroffen? Können Sie bitte eine grafische Darstellung für Betroffene und zuständige BeamtInnen als Erleichterung beim Vollzug publizieren?
- Dürfen RadfahrerInnen auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule ihr Gesicht mit dem Schal gen Wind schützen? Zählt selbiges Verhalten in der Freizeit dann als Verwaltungsübertretung?
- Was ist mit obdachlosen Menschen und BettlerInnen? Werden der Erwärmung dienende Utensilien als „berufliche Notwendigkeit“ gewertet und den Ausnahmefällen zugeordnet?
- Wieviel Prozent exakt vom Gesicht muss frei bleiben, wenn sich jemand für (kulturelle) Tattoos im Gesicht entscheidet?
- Modische Piercings: manche tragen soviel Metallschmuck im Gesicht, dass die Identifizierung beinahe nicht mehr gewährleistet ist.Gibt es hierbei eine Obergrenze?
- Was ist mit Stirnfransen? Die Stirn ist ja damit, wie schon selbst erklärend, mit Haaren versehen. Was sagt das Gesetz bezüglich maximaler Länge und Farbe? Apropos: gilt das Tragen von wärmenden Stirnbändern nun als Strafdelikt?
- Es gibt zudem viele Frisuren, deren hip sein genau darin liegt, einen Teil vom Gesicht zu bedecken und die Person geheimnisvoll wirken zu lassen, bei Männern wie auch bei Frauen. Ich bitte um eine bildliche deppensichere Darstellung von erlaubten und nicht erlaubten Haarschnitten. Als Grundhaarfarbe der Illustration bietet sich möglicherweise Blauschwarz besonders an, dann entsprechend der Mandate im Nationalrat die weiteren Regierungsfarben. Friseurläden möchte ich zwecks Prävention nahelegen, den KundInnen Kataloge mit gesetzeskonformen und -widrigen Frisurenmodellen vorzulegen.
- Das Gesetz diskriminiert Männer ganz besonders meiner Meinung nach. Was tun bei persönlicher Vorliebe für Stirnfransen, Stirnbänder, Vollbart, Tattoo, Piercing und einer in das Gesicht hängenden Haarpracht? Bedeutet dies ein Fall von mehrfachem Widerstand gegen die Staatsgewalt und Vervielfachung des Strafausmaßes?
- Sport: Bei Fußballevents bemalen sich die Fans oft in den Farben ihrer Lieblingsmannschaft. Symbole oder Farben der Nationalfahnen sind meist beliebte Motive im Gesicht und am Körper. Werden nun am Eingang von Fußballstadien Gesichter gescannt?
- Gibt es eine gesetzlich festgeschriebene Altersuntergrenze für Schals und Co, um der Kinderkriminalisierung vorzubeugen? Sinn macht es eigentlich erst ab der Volljährigkeit. Davor könnte man wahrscheinlich die Erziehungsberechtigten wegen unterlassener Aufklärung zum neuen Gesetz mit einer entsprechenden Organstrafverfügung mahnen. Die Bildungseinrichtungen müssten dann logischerweise auch mithaften, wenn sie Kinder und Jugendliche mit Schals im Gesicht auf dem Pausenhof herumrennen lassen.
- Tatort Spielplatz: dürfen Kinder außerhalb vom Fasching nicht mehr mit Verkleidungen und Masken in Kindergärten oder auf öffentlichen Spielplätzen spielen? Sind Sie BefürworterInnen von Verkleidungen ohne Gesichtsmasken, insbesondere für Kinder?
- Was ist mit der Organisation „Die Roten Nasen“, unsere Clowndoctors und Kinderfreunde, die in Spitälern Kinder in psychischer Notlage betreuen und bemüht sind, etwas Farbe und Freude in den grauen Alltag zu bringen? Muss sich dieser Verein nun auflösen?
- Zur Vollstreckung des Gesetzes bedarf es meiner Ansicht nach neben der Exekutive auch noch weiterer Kontrollposten, was ja wiederum neue Arbeitsplätze schafft, die teilweise mit den Einnahmen der Geldstrafen gedeckt werden könnten. Ganz im Sinne jedes Gesetzgebers: was vom Bürger kommt, fließt zum Bürger zurück. So entsteht z. B. die Notwendigkeit von Aufsichtspersonal vor Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern, Ämtern etc., sodass die Schals vor Eintritt des Gebäudes und eigentlich schon bei Betreten der Parkplätze auch hundertprozentig abgenommen werden. Das Eis an der Nase kann ja drinnen schmelzen. Oder Sie investieren in die Technik und lassen Radarautomaten bauen, denen Sie die Gesetzeslücken begreiflich machen.
- Dringend zu beachten ist aber auch die erhöhte Anfälligkeit für Erkältungen, welche mehr Arztkonsultationen und Krankenstände nach sich ziehen und die Arbeitgeber auf die Barrikaden treiben wird, mehr Kosten im Gesundheitsbereich verursachen, deren Tilgung dem Steuerzahler weitere Nerven abverlangen wird, deren Beruhigung wiederum Mehrkosten produziert, bis sich der Teufelskreis damit schließt.
- Unternehmen und Werbewirtschaft: müssen die Ceo’s nun selbst als Maskottchen auftreten, um keine Einbußen zu befürchten? Diese Aktionen sind wohl kaum mit der Ausnahme vereinbar, die „künstlerische, kulturelle oder traditionelle Veranstaltungen“ umfasst und unternehmerische exkludiert.
- Warum kümmert sich der Gesetzgeber nicht auch um die Augen, die ja Spiegel der Person sind und auch als Lügendetektor gelten? Warum werden z. B. farbige Kontaktlinsen nicht vom selbigen Gesetz erfasst: eine falsche Augenfarbe ist doch auch eine Vortäuschung einer falschen Identität, widerspricht den Personaldaten im Lichtbildausweis und stellt damit doch eigentlich ein Delikt dar? Achtung Sonnenbrillen: Trotz Kälte könnte jemand den Bedarf spüren, empfindliche Augen gegen das Sonnenlicht oder dem Schneeweiß zu schützen. Müssen diese Betroffenen nun ärztliche Atteste bei sich tragen?
- Kommen wir zum eigentlich Wichtigen: wieviel kg Makeup darf eine Person im Gesicht auftragen, ohne das Gesicht unkenntlich gemacht zu haben? Gibt es hierzu professionelle Schminktipps von ExpertInnen? Ist Permanent Makeup nun gesetzeswidrig?
- Hochzeiten: wie umgehen mit dem Brautschleier, den es in so vielen Kulturen gibt? Man stelle sich vor, wie Polizist und Bräutigam sich darum streiten, wer denn nun den Brautschleier abnehmen darf. Vielleicht könnte die Modeindustrie etwas entgegenkommen und Brautkleider ohne Schleier entwerfen.
- Das große Ich bin Ich: Reicht ein amtlicher Lichtbildausweis der Person aus, oder müssen zusätzlich ZeugInnen die Identität authentifizieren? Müssen all jene Personalien, in denen die Fotos nicht im Einklang mit dem neuen Gesetz stehen, neu ausgestellt werden? Aus welchem Budget sollen die Kosten für diesen Personal- und Sachaufwand finanziert werden?
- Von enormer Wichtigkeit erscheint mir auch die Terminologie und die political correctness bei der Bezeichnung dieser GesetzesbrecherInnen: Anti-Identitäre, radikale Schalisten, extreme Maskottichisten, fundamentale Bettellobbyisten, Wetterprotagonisten, linke Schnupfisten, leichtgläubige Humanisten.
- Welche Anlaufstelle wird sich um Opfer von nicht gerechtfertigten Anzeigen oder gar Angriffen von selbst ernannten Helfern der Polizei kümmern? Wohin kann sich ein normaler Polizist wenden, wenn er sich im Einzelfall einfach nicht sicher ist, ob ein Gesetzesverstoß vorliegt oder nicht? Oder wenn ein Polizist den Einwänden von Betroffenen nichts mehr entgegenhalten kann und Frust sich ausbreitet? Zählen Handlungen beider Seiten im Affekt als Milderungsgrund? Ein diesbezügliches Coaching der BeamtInnen mit Grafiken und ExpertInnen aus dem Nationalrat könnte womöglich Abhilfe schaffen und präventiv wirken. Auch eine Hotline für Notfälle zur raschen und zufriedenstellenden Unterstützung der PolizistInnen sollte unbedingt angedacht werden. Diese und weitere Kosten könnte man vielleicht auch mit einer bundesweiten Spendenaktion decken.
- Ich will auch einen konstruktiven Beitrag zum Gesetz leisten, um meiner Pflicht als Bürgerin nach zu kommen: Nachdem es keine gesetzlich festgelegte Mindesttemperatur für das Hochziehen von Schals gibt, schlage ich persönlich der Polizei vor einen Thermometer in ihre Grundausrüstung einzubauen und die Körpertemperatur als Gesetzesgrundlage heran zuziehen, bei der man zumindest sicher sagen kann, wann eine Unterkühlung vorliegt, ohne politisch motivierte oder beliebige individuelle Unter- und Obergrenzen aushandeln zu müssen. Das Eintreten von roten Nasen, Rotz und ähnlichem, blauen Fingern, Zehen bis hin zum Erstarren gewisser Körperteile könnte als Leitfaden in besagter Reihenfolge auch helfen. Stellt sich nur die Frage: wie stark muss eine Nase rinnen, wieviele Packungen verrotzter Taschentücher müssen als Beweis vorgelegt werden, damit der Gebrauch von Schals legitimiert ist? Als Indizien bei frösteln muss auch genauer hingeschaut werden: reicht ein blauer Zehe oder Finger aus, oder müssen es schon mehr sein? Habe heute dazu noch einen sehr wichtigen Hinweis von anderen besorgten BürgerInnen erhalten: solange sich an der Nasenspitze kein Eis bildet, sei ein Schal strikt zu unterlassen.
- Der 28-jährigen Psychologin Nora Först in Wien wurde das neue Gesetz bereits vor Eintritt des Winters zum Verhängnis. Die launen- und witterungsabhängige Regelung, die den VollzugsbeamtInnen einen Spielraum einräumt, um mit „Fingerspitzengefühl“, d.h. in Samthandschuhen, in der jeweiligen Situation und nach persönlicher Willkür zu entscheiden, bietet fairerweise auch Betroffenen diese Option. Plausible Erläuterungen unter Heranziehung physikalischer und mathematischer Naturgesetze könnten das Gesetz sogar zu Fall bringen, wie in der Causa Först. Sie argumentierte wie folgt: „Ich habe auf mein Handy geschaut, und wenn ich nach unten schaue, sind mein Mund und meine Nase natürlich im Schal“, schildert die 28-Jährige im „Wien heute“-Interview. „Wenn ich allerdings hochschaue, sieht man mein Gesicht“. Das habe sie den Beamten auch gesagt. Zitat Ende.
Folglich gelangt man zum einzig logischen Schluss: das Bedienen eines Handys oder eines anderen Geräts ist während dem Tragen eines Schals zu unterlassen. Es sei denn, man bedenkt den notwendigen Winkel bei der Beugung zwischen Nase, Schal und Handy. Wenn dieser bei der Sichtung von PolizistInnen kleiner ist als die Hypothenuse zum Beamten, empfiehlt es sich eine zackige Bewegung zwecks Aufrichtung und Augenhöhe zu machen, das Handy direkt vor die Nase, die eigene versteht sich, zu halten und Beamten über dieses Recht freundlich aufzuklären. - Um das Brainstorming zum Ausmaß dieses nebulösen Gesetzes etwas zu erleichtern und eine breite Öffentlichkeit mit einzubeziehen, schlage ich die Bildung von Arbeitsgruppen aus der Zivilgesellschaft und dem öffentlichen Dienst vor, denen unbedingt folgende VertreterInnen angehören sollten: Bundessprecher/in der Maskottchenvereinigung, BundesmeisterIn des Ninja Sportvereins, Bundesvorsitzende/r der Bettellobby, BundesleiterIn der Elternvereinigung, Bundesvertretung des Vereins Kinder helfen Erwachsenen, führende Unternehmen von Spielwaren, renommierte Persönlichkeiten der Modeindustrie bezüglich Haut-Haare-Piercing, Ärztekammer, PatientInnenanwaltschaft, Die Roten Nasen, Hirnspezialisten der Universität Wien, Seelenklempner mit Expertise in Sachen Regierungstraumatisierung, KinderpsychiaterInnen und FreudianerInnen, die Niqab tragende saudische Botschafterin in Wien zwecks Nichtabschreckung von superreichen Touristinnen aus dem arabischen Raum, der Tourismusverband Österreich und Niqab Trägerinnen, deren Teilnahme problemlos gesetzlich erzwungen werden könnte, die Islamische Glaubensgemeinschaft Österreich, Nora Först, Conchita Wurst und natürlich auch die Freunde und Helfer des Volkes. Für die bundesweite Spendenaktion sind entsprechend die größten Hilfsorganisationen einzuladen wie die Gesellschaft der österreichischen SteuerzahlerInnen, Caritas, Rotes Kreuz, Roter Halbmond und Licht ins Dunkel, damit etwas Licht ins Dunkel der Gehirnzellen gelangt.
Es gibt noch viele offene Fragen, sagt der Hausverstand. Um den Kollateralschaden einzudämmen, bitte ich Sie, werte VertreterInnen des Volkes, um detaillierte und dem durchschnittlichen IQ unser aller entsprechender Klauseln. Meine Anfrage gilt in Folge natürlich auch an PolitikerInnen in anderen Ländern, die ein ähnliches Gesetz der bürgerlichen Unfreiheit in Erwägung ziehen. Bitte entschleiern Sie indessen Politik und Parteimitglieder im Sinne „österreichischer Werte“, laut Informationsblatt zum Gesetzestext, wie Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Rechtsstaat und Demokratie.
Zeigen wir alle gemeinsam ein menschliches Gesicht und überwinden wir Barrieren in unseren Köpfen. Das ist DER Schlüssel zur sozialen Interaktion und zu einer WIR Gesellschaft.
Mit herzlichen, bürgerlichen Grüßen
Mag.a Yeliz Dağdevir Aktuell Meinung
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