Diskriminierung
Das Bildungswesen als (Re-)Produktionsort des Migrantischen
Integration und Teilhabe ist nur soweit möglich wie die Gesellschaft bzw. das Bildungswesen es zulassen. Doch was tun, wenn selbst Mehrsprachigkeit problematisiert wird? Von Abdurrahim Derya
Von Abdurrahim Derya Mittwoch, 08.11.2017, 6:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.11.2017, 12:11 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die Gesellschaft benötigt für ihren Erhalt passfähige Nachfolgemitglieder, die mit Bildungsinstanzen entlang eigener Interessen und Verhältnisse integriert werden sollen. Daher besitzt die Schule eine integrativ-ökonomische (Verteil-)Funktion, die sie mithilfe (Schul-)Bildung realisiert. Im Schuljahr 2016/2017 werden im Bildungswesen etwa 11 Millionen Schüler unterrichtet. Zu diesem Zweck waren die öffentlichen Bildungsausgaben für das Jahr 2016 mit 129,2 Milliarden Euro veranschlagt.
Bekanntermaßen soll damit den Kindern und Jugendlichen kulturelle, soziale und politische, aber auch berufliche Kompetenzen vermittelt werden. Ihnen sollen Handlungs- und Entwicklungschancen eröffnet werden – vordergründig ihre Identitätsentwicklung und still nach Bedarf der inneren Ökonomie, ihre Berufsfähigkeit vorangetrieben werden. Infolge die heranwachsende Generation (teils unabhängig ihrer Motive) nach gesellschaftlicher Vorstellung in das Sozialleben bzw. nach wirtschaftlicher Nutzbarkeit in den Arbeitsmarkt integriert wird. Dabei löst das Bildungswesen Probleme der Vielfalt durch Konformitätsdruck, indem allen Schülern dieselben Normen aufgesetzt und abverlangt werden.
Diskriminierung – Routine ihrer eigenen Normalität
Soweit alles „schulamtlich“, wenn nicht bestimmte Schüler oder Schülergruppen die der Norm nicht genügen (können) ungleich aus den Möglichkeiten des Bildungssystems schöpfen können bzw. ungleich schlechter gestellt werden. Sie gehören zur Risikogruppe und unterliegen, neben anderen ungünstigen Situationen, ungerechtfertigten Bewertungen oder Segregation in Förderklassen. Hier finden sich Angehörige eines (un-)bestimmten Geschlechts, Religion, Nationalität, Ethnie, Kultur, einer sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsschicht, sogenannte Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund und Migrationszuordnung. Ihre originäre Nonkonformität bedingt die Infragestellung ihrer gesellschaftlichen Verwertbarkeit, ihrer ökonomischen Nutzbarkeit, ihrer Arbeitsfähigkeit- und Integrierbarkeit.
Die Bedingung für Benachteiligung ist die schulische Übernahme von nicht nur geltenden sozialen und ökonomischen Verhältnissen, sondern unabwendbar auch diskriminierenden Anschauungen. Das heißt: Wenn in der Gesellschaft diskriminierende Vorurteile existieren, sind sie der Schule als gesellschaftliches Teilsystem bzw. Reproduktionssystem zwangsläufig inkorporiert. Dabei handelt es sich nicht zwangsläufig um die personal-direkte Diskriminierung, sondern um diskriminierende Mechanismen und Strukturen, die für den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft meist nicht sichtbar sind. Zum einen sind sie davon nicht unmittelbar betroffen, zum anderen befinden sie sich in der Routine ihrer eigenen Normalität.
Wahrheit durch Wiederholung
Die (Re-)Produktion des Migrantischen nährt sich von (allgemein-)gültigem Wissen über migrierte und der Migration zugeordnete Menschen. Sie ist die Folge unreflektierter, stereotypischer, kategorialer aber auch rassismusrelevanter Denkweisen (pauschal nicht-rassistisch). Zudem dort mangelhaft Menschen mit individuellen Persönlichkeiten und Biographien als „Ausländer“, „Migranten“ oder sachlich richtig als „Menschen mit Migrationshintergrund“ in einer homogenen Masse aufgeführt werden. Die Diskurse können weniger wirkliche Begebenheiten, hingegen das kollektive (medienwirksame) Denkschema wiederspiegeln. Sie lassen Individualitäten außer Acht, sind voreingenommen und vorindoktriniert von vorherigen Diskursen. Im Besonderen: Sie sind vornehmlich von der Mehrheitsgesellschaft bemächtigt und schaffen durch Wiederholungen eigene Wahrheiten – nicht minder eine charakterlich identische Personengruppe. Diese diskursiv produzierte Bevölkerungsgruppe und ihre miterzeugte Essenz werden im Widerspruch zu einer auch dort homogenisiert dargestellten deutschen Gesellschaft gegenübergestellt.
Die Diskussionen über Migration und Integration, Bildung, Armut, Kriminalität, Sozialstaat, etc. setzten selbstverständlich und offen Problemlagen mit Migranten und dabei latent immer Desintegriertes, etwas Fremdes, qua das Andere, voraus. Beispielsweise genügen bereits herkunftsspezifische oder scheinbar undeutsche Vornamen oder physiognomische, äußerliche, Differenzen Menschen als Fremde und Andere abzugrenzen. Gegenteilige Auseinandersetzungen über Menschen mit Migrationsmerkmalen klingen derweil befremdlich – besonders in Zeiten der „Flüchtlingskrise“, angestiegenem Rassismus, neu-alter politischer Identitäten und Ausrichtungen und schwindendem Sicherheitsgefühl.
Migrationsbezogene Ungleichbehandlung
Das von den allgemeinen Topoi nicht allzu ferne Denken über das Fremde und Andere kommt im schulischen Raum und in Schulbüchern deutscher Schulen zum Tragen. Dabei haben diese Denkmuster in den ökonomischen, politischen, rechtlichen und institutionellen Strukturen wie im Bildungswesen eine weit verbreitete und verankerte Akzeptanz. Derartige Unterscheidungen erlangen gesamtgesellschaftlichen Konsens, infolge dieser innerschulisch an Legitimität gewinnt. Sie gestalten sich durch den Vollzug von norm-orientiertem Wissen, die sich in den schulischen und schulpolitischen Strukturen etabliert haben.
So vollziehen sich schulische Unterscheidungen meist in Form von positiver Diskriminierung: In der Absicht das Kind zu fördern, es zu integrieren oder eben zu normalisieren. Wogegen negative Diskriminierung eine Folge von direkter ungleich-schlechter Behandlung ist. Eine Untersuchung über die Notenvergabe nach dem Übergang auf das Gymnasium zeigt jene migrationsbezogene Ungleichbehandlung auf. Die Kinder erhielten bei gleicher Spracheignung und sozialem Hintergrund signifikant schlechtere Noten, wobei das Elternhaus als negativer Beziehungspunkt angeführt wurde. Den Kindern mit sogenanntem Migrationshintergrund und guten Noten wird aber auch vergleichsweise häufig die Gymnasialeignung infrage gestellt, wodurch ihnen generell niedrigere Chancen auf einen Gymnasialbesuch gegeben sind.
Förderabsicht wird zur Diskriminierung
Im Zusammenhang institutioneller Diskriminierung in der Schule stehen migrantische Schüler migrationsbezogenen Vorurteilen gegenüber, unterdessen das nicht-migrantische Kind seine Eignung nicht bevorschussen muss. Die Mehrsprachigkeit des migrantisch wahrgenommenen Kindes wird als Sprachentwicklungsverzögerung oder -störung umgedeutet, ihre Integrationsbereitschaft bestritten, adoleszentes und individuelles oder psychopathologisches Verhalten als kultur- und religionsspezifisches Verhalten diagnostiziert. Zudem werden als nonkonform erachtete Auffälligkeiten u.a. mit bestimmten Nationalitäten, Ethnien, Religionen oder Sprachen in Verbindung gebracht, die der Ursachenerklärung dienen. Die damit verbundene Sonderbehandlung in Förderabsicht entfaltet sich negativ diskriminierend, wenn sie dann zur Bemessungsgrundlage für Zurückstellungen, Überweisungen in Sonderschulen für Lernbehinderte (SOLB) und Schulzeitverlängerung (Überalterung) dienen – und diese sich negativ auf die Identitätsentwicklung und das spätere Erwachsenenleben auswirken.
Die schulische Diskriminierung ist neben institutioneller Entlastungsversuche vornehmlich eine Folge institutionalisierter Normalitätserwartungen. Jene von der Gesellschaft übernommene und formulierte Normalität, die es zu reproduzieren gilt, spiegelt zwangsläufig nicht die Normalität der migrantischen Kinder wider. In der Erwachsenwelt finden sich die Kinder als ein migrantisches (Re-)Produkt wieder. Integration und Teilhabe ist dann nur soweit möglich, wie die Gesellschaft bzw. das Bildungswesen es zugelassen hat. Demzufolge ist die Schule mit ihrer Legitimität, wie ihrer Funktion Gesellschaftsadäquates zu produzieren, an der Entstehung des Migrantischen nahezu komplizenhaft beteiligt. Dies entbindet die betroffene Schülergruppe (inklusive der beteiligten schulischen Akteure) nicht ihrer Verantwortung. Hingegen zeigen sich wohl Grenzen auf, die im Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt und in der sozialen Welt deutlich werden. Leitartikel Panorama
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