Buchtipp zum Wochenende
Es gibt keine kulturelle Identität
François Jullien (66) ist Philosoph und Sinologe. Er war unter anderem Direktor des Collège international de philosophie und Professor an der Universität Paris-Diderot. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2010 mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken.
Von Werner Felten Freitag, 24.11.2017, 6:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 26.11.2017, 19:55 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Mit der provokanten These, dass es keine kulturelle Identität gäbe, mischt sich Francois Jullien in die schier endlose Debatte um Migration, Integration und dem angeblichen Verlust der eigenen Identität, ein.
Der französische Philosoph Jullien bedient sich bei seiner Argumentation eines mächtigen Überbaus: der Erkenntnistheorie der griechischen Philosophie, die auf These und Antithese beruht und kein „Zwischen“ kennt.
Die Suche nach dem Jenseits von Gut und Böse ist anstrengend, schmerzhaft und zwingt zur eigenen Erkenntnis. Sich aus dem Schwarz und Weiß denken zu verabschieden scheint vielen nicht möglich. Oder religiös formuliert: Entweder man glaubt oder man glaubt nicht, ein bisschen Glauben gibt es nicht. Der Angst vor dem „Zwischen“, oder anders formuliert dem Fremden, wird die eigene kulturelle Identität entgegengesetzt.
Es kann aber keine eigene kulturelle Identität gben, weil Kultur immer dem Wandel unterzogen ist, sich jedes Individuum einer ständigen subjektiven Sozialisation unterworfen ist. Aus diesem Grund ist Kultur für den Autor Kultur eine Ressource, die immer wieder aktiviert werden muss, um die Gegenwart zu meistern und die Zukunft zu planen.
Bei einer Assimilation geht die Einzigartigkeit der Kultur verloren und damit schwindet erst die Ressource, um dann gänzlich zu verschwinden. Angleichung bedeutet Gleichförmigkeit. Gesellschaftliche Systeme, die den Menschen als Produkt eines Franchisesystems betrachten, sind nicht entwicklungsfähig. Kulturen zu bewerten, zu klassifizieren und in Hitlisten zu setzen, so Jullien, muss zwangsläufig zu einem Zusammenprall der Kulturen führen.
Als Philosoph gönnt er sich den berufsbedingten Vorteil, die Religion bei seinen Betrachtungen gänzlich außer Acht zu lassen. Er entzieht sie der Kultur und packt sie in das Universelle, das in seiner Einförmigkeit auch Gleichförmigkeit ist. Damit ist sie für ihn nur ein unwesentlicher Bestandteil eines weiterführenden Denkens.
Gerade die Nichtbeachtung des Religiösen ist ein Schwachpunkt von Julliens Essay. Die in Europa schwelenden Konflikte nur auf die Kulturen zu reduzieren, vernachlässigt die öffentliche Vorverurteilung des Islams, als eine nicht zur europäischen Tradition passende Religion.
Julliens philosophischen Ansatzes lässt sich das Banale aus dem täglichen Leben von Menschen, die als Kulturhybriden leben, gegenüberstellen. „Ich nehme mir das Beste aus den Kulturen“, antworten sie auf die Frage, wie sie denn mit ihrer Hybridität zurechtkämen.
Sich dem Besten aus allen Religionen zu bedienen, wird nicht funktionieren, dem stehen die Wächter des wahren Glaubens entgegen. Aktuell Rezension
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