Hetze gegen Ausländer
Rechtsextreme missbrauchen #MeToo-Debatte für rassistische Zwecke
Abends joggen zu gehen sei für Europäerinnen ein gefährlicher Sport, behauptet eine Gruppe junger Frauen. Mit ihrer Kampagne "#120db" wollen sie Frauenrechte schützen, hetzen aber vor allem gegen Einwanderer. Von Patricia Averesch
Mittwoch, 07.03.2018, 6:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 12.03.2018, 17:14 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Ernst blicken die jungen Frauen in ihre Webcams. „Ich wurde in Kandel erstochen, ich wurde in Malmö vergewaltigt, ich wurde in Rotherham missbraucht“, sagen sie in dem Video. Melancholische Musik unterlegt ihre Worte. Auf dem Bett oder am Schreibtisch sitzend sagen sie: „Mein Name ist Mia, mein Name ist Maria, mein Name ist Ebba.“ Die Mädchen beziehen sich auf Opfer von Gewaltverbrechen, die eines gemeinsam haben: Die Täter haben offenbar einen Migrationshintergrund.
In dem Video, das allein auf Youtube mehr als 90.000 Aufrufe hat, klagen die Frauen die deutsche Regierung an. „Die Täter lauern überall“, behaupten sie. „Wir sind nicht sicher, weil ihr euch weigert, unsere Grenzen zu sichern.“ Die Mädchen fürchten, bald einer „Mehrheit von jungen Männern aus archaischen, frauenfeindlichen Gesellschaften“ gegenüber zu stehen.
Das Video gehört zu der Kampagne „120 Dezibel“, die nach der Lautstärke eines handelsüblichen Taschenalarms benannt ist. Dieser und Pfefferspray befänden sich mittlerweile in jeder Frauenhandtasche, behaupten die Initiatoren. Unter dem Hashtag „120db“ fordern sie Frauen auf, Erfahrungen mit Überfremdung, Belästigung und Gewalt zu berichten – offenbar ein Versuch, die #MeToo-Debatte zu kapern. Sie sagen, sie seien „der wahre Aufschrei gegen die wahre Bedrohung von Frauen in Europa“.
Identitäre hinter der Kampagne
Hinter der Kampagne steht die „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD). Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht bei dem Verein Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen. Sowohl die „120 Dezibel“-Kampagnen-Website als auch die Internetseite der Identitären verantwortet Daniel Fiß aus Rostock. In der Aktivisten-Liste der Identitären wird der 24-Jährige als Mitglied des IBD-Bundesvorstands aufgeführt.
Die Identitären haben nach Schätzungen des Verfassungsschutzes 400 Mitglieder – besonders stark ist der Verein demnach in Berlin-Brandenburg, Bayern und Baden-Württemberg vertreten. Die IBD behauptet, die Politik wolle die einheimische Bevölkerung durch Masseneinwanderung austauschen. Mit dem Ziel, ein Deutschland ohne Identität, Heimatverbundenheit, Patriotismus und Traditionen zu schaffen.
Expertin: Rechtsextreme nutzen Frauenrechte
„Die Kampagne der Identitären instrumentalisiert feministische Positionen, um gegen Flüchtlinge zu hetzen“, sagt Heike Radvan, Professorin der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Es handele sich dabei nicht um Feminismus, denn Rechtsextreme nutzten Frauenrechte immer nur dann, wenn sich diese für ihre rassistischen Ziele und Ideologien einsetzen ließen, erläutert Radvan.
Tatsächlich hat es durch die Flüchtlinge seit 2014 einen Anstieg von Gewalttaten in Deutschland gegeben, bestätigt eine Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer. Die Ursachen dafür seien vielfältig: Zum einen erhöhe die mangelnde Zukunftsperspektive die Gewaltbereitschaft unter Flüchtlingen, zum anderen würden Gewaltdelikte von Flüchtlingen auch häufiger angezeigt werden, da Opfer und Täter unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehörten.
Flüchtlinge unter Generalverdacht
Grundsätzlich sind 14- bis 30-jährige Männer bei Gewalt- und Sexualdelikten in jedem Land überrepräsentiert. Die „120 Dezibel“-Kampagne aber stellt Flüchtlinge unter Generalverdacht. Doch der Mythos des unbekannten Vergewaltigers, der nachts Frauen überfällt, hält der Realität nicht stand. Im Jahr 2016 war mehr als jeder zweiter Sexualstraftäter ein Verwandter oder näherer Bekannter des Opfers, wie aus einer Statistik des Bundeskriminalamts hervorgeht. Nur etwa 36 Prozent der Opfer hatten keine oder eine ungeklärte Beziehung zum Tatverdächtigen.
Auch die AfD warnt vor Einwanderern als Straftätern: Die kurdischstämmige AfD-Politikerin Leyla Bilge organisierte Mitte Februar einen „Frauenmarsch“ in Berlin. Bilge hatte zu dem Marsch nach eigenen Angaben aufgerufen, um Frauenrechte zu schützen und gegen die Flüchtlingspolitik zu protestieren.
Rechte Aktivistinen: Das ist nur der Auftakt
Die „120 Dezibel“-Aktivistinnen passten in das Bild der modernen rechten Frau, das sich seit den 1990er Jahren ausdifferenziert habe, erläutert die Berliner Professorin Esther Lehnert, die zum Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus gehört. Es dominiere zwar nach wie vor das Bild der deutschen Mutter, die Kinder gebäre und sich um ihren Mann kümmere. Doch Mutterschaft sei heute selbstverständlich mit politischem rechtsextremen Engagement verbunden, etwa als Internetaktivistin, erläutert sie.
Die „120 Dezibel“-Aktivistinnen wollen nicht nur im Internet agieren. Auf der Berlinale störten sie eine Veranstaltung zu sexueller Belästigung in der Filmbranche. Sie lösten auf der Bühne Taschenalarm aus und warfen Flyer ins Publikum. Bei Facebook, wo sie mehr als 12.000 Menschen abonnieren, kündigen sie an, dass dies nur der „Auftakt“ für viele weitere Aktionen sei. „Erwartet uns!“, schreiben sie. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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