„Ich möchte zum Schule gehen“
Wie Rechte von Flüchtlingskindern systematisch unterlaufen werden
In der Zentralen Unterbringungseinrichtung in Oerlinghausen sind rund 100 Kinder untergebracht. Eine Schule dürfen sie nicht besuchen. Das verletzt grundlegende Kinderrechte. Birgit Morgenrath hat mit Betroffenen gesprochen. Ein Besuch vor Ort.
Von Birgit Morgenrath Dienstag, 17.04.2018, 6:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 22.04.2018, 15:18 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Doro* ist zwölf Jahre alt. Sie ist großgewachsen und trägt lange schwarze Haare. Literatur war ihr Lieblingsfach zu Hause, in der Mongolei. Sie besuchte die fünfte Klasse. Sie verzieht das Gesicht. Aber jetzt könne sie nur zwei Stunden täglich an einem Deutschkurs teilnehmen. Von einem Blatt Papier liest sie ab: „Hier ist es sehr langweilig, bitte geben Sie mir Chancen, in die Schule zu gehen, ich möchte lernen. Ich möchte in die Schule gehen, das macht mir Spaß.“
Ihre Mutter Kamu ergreift das Wort, eine Frau mittleren Alters, elegant gekleidet, dezent geschminkt. Vor der Flucht hat sie als Englisch-Deutsch-Übersetzerin gearbeitet. „Für mich ist es wirklich unerträglich, dass die Kinder nicht in die Schule gehen dürfen. Diese Umgebung macht den Kindern wirklich sehr viel Stress! Sie sehen jeden Tag nur Streit oder Schlägereien.“
Sie beugt sich vor; eindringlich, ja beschwörend berichtet sie, ihre Tochter sei eine sehr gute, talentierte Schülerin. Seit einem halben Jahr müsse sie in der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes in Oerlinghausen mit rund 400 weiteren Bewohnern, darunter 100 Kindern, endlose Tage und Wochen warten. Mutter und Tochter seien sehr gestresst. „Kinder müssen raus und spielen. Es hilft, wenn sie in die Schule gehen, da sind sie beschäftigt.“
Eine Petition
„Zugang zu öffentlichen Schulen und Bildung für unsere Kinder“ ist denn auch eine von zwölf Forderungen, die 85 Geflüchtete der ZUE Oerlinghausen in einer „Petition an die deutsche Regierung“ veröffentlicht haben.
Mit am Tisch im Supermarktcafé der schmucken, lippischen Bergstadt südöstlich von Bielefeld sitzen zwei Ehepaare aus Albanien, eines davon mit drei Kindern.
„Ich heiße Ilirjana“, sagt die Achtjährige mit der rosa Schleife im Haar. „Ich möchte Schule, ich möchte lernen, ich möchte alles.“ Auch ihre Eltern, Zejenepe und Burim Ahmeti, bestätigen, dass das Lager, in dem manche schon anderthalb oder gar zwei Jahre zu untätigem Warten verdammt seien, schlecht für die Kinder sei. Regelmäßig patrouillierten Polizeiwagen auf dem Gelände. Nachts hätten die Kinder oft große Angst.
„Bei einer Stunde Unterricht pro Tag sind die 15 Stunden bereits nach drei Wochen absolviert, und das für den gesamten Aufenthalt von bis zu sechs Monaten – was tun die Kinder in der anderen Zeit?“
„Heute morgen um fünf Uhr war es plötzlich sehr laut auf dem Flur“, erzählt Zejenepe. Eine Familie wurde abgeschoben. Deren Kinder hätten laut geweint und ihre eigenen Kinder hätten sich sehr gefürchtet. Manchmal kämen sie mitten in der Nacht „zwischen eins und drei“, fügt Kamu hinzu. Ihre Tochter habe das schon vier Mal miterlebt. „Einmal kamen sie mit 20 Polizeiwagen gleichzeitig und mit einem großen Bus.“ Dann höre man viele Kinder weinen. Die Betroffenen hätten ganze 20 Minuten, um ihre Sachen zu packen, fügt Ervis hinzu, ein junger Mann mit fester Stimme, der aus dem Albanischen ins Englische übersetzt. Sie würden von Polizisten an Tür und Fenster bewacht, die ihnen als erstes die Handys abnähmen, damit sie keine Hilfe rufen können. „Es ist wie im Gefängnis.“
Keine Beratung mehr
Svenja Haberecht, die für die Flüchtlingshilfe Lippe zwei Jahre als Verfahrensberaterin in der ZUE gearbeitet hat, bestätigt, dass ihr die Ereignisse entsprechend geschildert wurden. Obwohl sie selbst sich in der ZUE nicht frei bewegen durfte, so eine Regel der in diesen Angelegenheiten zuständigen Bezirksregierung Arnsberg, bestätigten die schiere Anzahl der Beschwerden sowie die Petition die schweren Mängel in der Einrichtung.
Weil Svenja Haberecht ihren Job, zu dem auch Öffentlichkeitsarbeit gehörte, im Sinne der Flüchtlinge ausübte und die Zustände im Heim kritisierte, wurde ihr wegen „Illoyalität gegenüber der Landesregierung“ die Arbeit in der Unterkunft seit Februar 2018 untersagt. Die Flüchtlingshilfe Lippe stellte, nachdem zwei erfahrenen Mitarbeitern der Zugang zur Unterkunft verweigert wurde, sowohl die unabhängige Beratung für Geflüchtete als auch das Beschwerdemanagement ein.
Kinderspielstuben
Kinder sollen in den ZUE-Kinderspielstuben Deutsch lernen und spielen können. In Worten der Vergaberichtlinie: „Förderung der Sprachkompetenz durch spielerische Vermittlung eines Grundwortschatzes“ durch mindestens eine staatlich geprüfte Erzieherin. Tatsächlich sieht die Kinderspielstube zum Beispiel in der ZUE Schöppingen, am Rande des beschaulichen 7.000-Einwohner-Städtchens im westlichen Münsterland, aus wie ein echter Kindergarten. Ein großer Raum, bunt, kindgerecht möbliert, jede Menge Spielzeug.
Auf dem gut sieben Hektar großen, luftig bebauten Areal einer früheren Kaserne finden sich Kantine, Frauentreff, Sport- und Sanitätsanlagen, Waschsalon, Café international sowie ein kleines Holzhaus als Moschee. Mitte Februar leben dort 371 Menschen, davon 22 Kinder unter sechs Jahren, 30 zwischen sechs und zwölf Jahren und 29 zwischen 13 und 17 Jahren alt – insgesamt 82 in der Regel lernbegierige Kinder und Jugendliche.
Zidra aus Syrien, Unnah aus Palästina und Zeinab aus Syrien haben sich in der hinteren Ecke der Spielstube ein „Haus“ aus Tischen, Stühlen und Decken gebaut. „Hallo wie geht‘s?“ „Alles gut, alles klar bei dir?“ Sie mögen um die acht Jahre alt sein und lachen. Aber Zidra sagt auch: “I want to go home. No good here: Heim. Zu Hause gehe ich in die Schule.“ Vermisst du die Schule? „Ja!” Unnah möchte Deutsch „und alles andere“ in der Schule lernen. Sie mag die Sprache. Eine Betreuerin steckt mit einigen Kindern Bügelperlen auf Steckplatten. Insgesamt besuchen an diesem Vormittag zwölf Kinder die Spielstube.
Die 13-jährige Halima aus Georgien hilft bei der Kinderbetreuung. Sie lacht fröhlich, während sie ernst sagt: „Jedes Kind will in die Schule gehen. Ich auch. Hier kann ich nicht zur Schule gehen. Das ist schwer für mich und für meine Familie. In Georgien habe ich in der Schule gerne Sprachen gelernt. Ich kann Türkisch, und ein bisschen Russisch, Japanisch, ich liebe japanische Kultur.“ Ein erstaunliches Mädchen.
Yvonne Pape von der Bezirksregierung Münster stellt klar, dass in diesen Lagern keine Schulpflicht gilt, sondern laut § 34, Absatz 1, Schulgesetz NRW erst, wenn die Bewohner einer Kommune zugewiesen sind. Solange müssen sie warten. „Das ist ja hier auch erst mal eine Übergangslösung; die sind im Grunde noch im Ankommensverfahren.“
Indoor-Schulen
Dabei gibt es in der ZUE Schöppingen ein Gebäude mit der Aufschrift „Schule“. Darin befindet sich ein Klassenraum mit Stühlen, Tischen und Tafel. Erwachsene und Kinder ab zehn Jahren lernen hier Deutsch, manchmal getrennt und manchmal zusammen in der Familie. Ingo Ochtrup, Leiter der ZUE von European Homecare und damit auch der „Schule“ betont, dass die vier unterrichtenden Sozialbetreuer zusammen acht Sprachen beherrschten.
„Die jetzigen Angebote in den Landeseinrichtungen erfüllen die UN-Kinderrechtskonvention und die EU-Aufnahmerichtlinien auf keinen Fall.“
„Jemand, der diesen Kurs mitgemacht hat, soll sich im täglichen Leben zumindest ansatzweise zurechtfinden können, zum Beispiel beim Arztbesuch oder beim Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln.“ 15 Einheiten umfasse der Deutschkurs. Immerhin. Aber erst nach dreimaliger Nachfrage stellt sich heraus: 15 Einheiten bedeuten 15 mal 45 bis 60 Minuten Unterricht. Plus der Möglichkeit, mehrfach teilzunehmen, wenn Kapazitäten vorhanden sind, oder in der „Bibliothek“ Selbststudium zu betreiben.
Bei einer Stunde Unterricht pro Tag sind die 15 Stunden bereits nach drei Wochen absolviert, und das für den gesamten Aufenthalt von bis zu sechs Monaten – was tun die Kinder in der anderen Zeit? Da könne man sich anders beschäftigen, meint Pape und zählt auf: Einkaufen im Ort oder Sport treiben, das Frauen- oder Männercafé aufsuchen – das sei ja auch alles freiwillig. „Wir können unseren Bewohner nicht den kompletten Wortschatz mit auf den Weg geben“, meint Ochtrup, „wir geben hier die Basics mit und das andere kommt nach und nach.“
Die Sozialbetreuer haben keine zusätzliche pädagogische Ausbildung. „Sicherlich ist da noch Luft nach oben,“ sagt Ingo Ochtrup, „aber ich muss sehen, was ich mit den Vorgaben personell umsetzen kann.“ Schließlich würde der Betrieb einer Einrichtung alle zwei bis vier Jahre neu ausgeschrieben. Da will man wohl nicht zu teuer sein.
Grundlegende Kinderrechte verletzt
Mit den 34 ZUE und acht Erstaufnahmeeinrichtungen sind in den letzten beiden Jahren neue Orte entstanden, an denen Beschulung rudimentär und „indoor“ stattfindet; bis zu zwei Jahre lang. Julia Scheuer vom NRW Flüchtlingsrat betont, dass gerade Kindern in solchen Lagern „erhebliche Nachteile für ihr psychisches und physisches Wohl“ entstünden. In den Lagern herrsche „unvermeidlich eine Atmosphäre absoluter Perspektivlosigkeit“. Die Insassen seien zur Untätigkeit verdammt und müssten nur warten – auf ihre Abschiebung.
Überdies würden grundlegende Rechte verletzt, ergänzt ihre Kollegin Birgit Naujoks, etwa die UN-Kinderrechtskonvention und die EU-Aufnahmerichtlinien. „Die jetzigen Angebote in den Landeseinrichtungen erfüllen diese Erfordernisse auf keinen Fall. Wichtig wäre es, die Kinder in Regelschulen zu integrieren,“ so Naujoks. Die schwarz-gelbe Landesregierung erwäge derzeit, Lehrer in die Einrichtungen zu schicken. „Aber auf keinen Fall werden richtige Schulen eingerichtet, und darum ist auch dieses Modell abzulehnen.“ Seit 2016 forderten die Kampagne „Schule für Alle!“ und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), zuletzt im Januar 2018, eine sofortige Schulpflicht für die Kleinsten und Kleinsten.
Svenja Haberecht erzählt von einem Tag, als sich im Lager Oerlinghausen das Gerücht verbreitete, im Beratungsbüro sei jemand, der beim Schulzugang helfen könne. „Im Nu war unser ganzes Wartezimmer voller Eltern und Kinder. Wir konnten uns gar nicht retten.“ Das spreche doch für sich. Leitartikel Meinung Panorama
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„Kinderrechte“ gibt es nicht. Es gibt nur Rechte für Staatsbürger. Alles andere ist eine Hilfsleistung der deutschen Gesellschaft. Ich halte das auch im Rahmen einer Integration für unsinnig. Wenn jeder kommen kann, der hereinschneit, werden irgendwann die Integrationskapazitäten erschöpft sein.
Natürlich gibt es Kinderrechte. Namentlich die UN Kinderrechtskonvention, ratifiziert von der Bundesrepublik Deutschen am 7. Februar 1992. Und natürlich gibt es auch Rechte für Nichtstaatsbürger.
Ansonsten scheint ihr Kommentar nicht viel mit dem Artikel zu tun zu haben.