Umkämpfte Reformen
25 Jahre „Asylkompromiss“ und Grundgesetzänderung
Anfang der 90er Jahre flohen immer mehr Menschen vor dem Krieg auf dem Balkan nach Deutschland. Es kam zu rassistischen Übergriffen. Die Politik geriet unter Druck, verschärfte das Asylrecht. Die schwer umkämpften Reformen gelten noch heute. Von Dirk Baas
Von Dirk Baas Freitag, 25.05.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 28.05.2018, 14:15 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Im Bonner Regierungsviertel geht nichts an diesem Morgen des 26. Mai 1993. Über 10.000 Demonstranten sind auf den Beinen. Sie protestieren lautstark gegen den „Asylkompromiss“, für den der Bundestag erstmals das Grundgesetz ändern will – zum Schrecken der Kirchen, der Flüchtlingsinitiativen und auch weiten Teilen der oppositionellen SPD.
Die Protestierenden schwenken nicht nur ihre selbst gemalten Transparente, sie blockieren auch die Zugänge zum Parlament. Einige entsetzte Abgeordneten müssen mit dem Hubschrauber oder per Schiff an ihren Arbeitsplatz gebracht werden. Draußen wird es handgreiflich, und auch im Plenum schlagen die Wellen hoch.
Schon zuvor tobte eine stark polarisierte Debatte, die der Freiburger Historiker Ulrich Herbert als „eine der schärfsten, polemischsten und folgenreichsten innenpolitischen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte“ bezeichnet.
„Asylantenflut“ und „Das Boot ist voll“
„Polemische politische und publizistische Debatten und populistische Kampagnen verstärkten die Krisenstimmung“, sagt der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Vielfach wurde der Eindruck vermittelt, der Staat sei „handlungsunfähig angesichts einer Bedrohung, die durch alarmistische Begriffe wie ‚Asylantenflut‘ und ‚Das Boot ist voll‘ gekennzeichnet wurden.“ Sogar der Begriff des „Staatsnotstandes“ machte die Runde.
4.000 Polizisten sind in der Bundeshauptstadt im Einsatz, halten sich aber auffallend zurück. Deeskalation heißt die Strategie, die aber nicht verhindern kann, dass innerhalb der Bannmeile Farbbeutel und Fäuste fliegen.
Hitzige Debatte
Die Politik will Handlungsfähigkeit demonstrieren: 1992 war die Zahl der Asylanträge auf 438.000 gestiegen, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Der Grund: Der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina trieb massenhaft Menschen gen Westen. Mehrfach kam es zu gewaltsamen Protesten. Rassistische Anschläge in Rostock-Lichtenhagen (August 1992), Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993) schockten die Republik – und ließen zugleich die Rechten jubeln.
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) eröffnet trotz der widrigen Umstände die Plenarsitzung pünktlich um neun Uhr. Und sie hat schnell ihre liebe Not, die wegen der Proteste vor dem Bundestag aufgewühlten Redner im Zaum zu halten. Schon nach wenigen Minuten muss die Präsidentin intervenieren: „Einen Augenblick! Gepfiffen wird hier im Saal nicht.“ Hitzig bleibt es trotzdem: Erwin Marschewski (CDU) nennt den Linken Gregor Gysi einen „Geschichtsfälscher“, später ruft er an anderer Stelle: „Noch nie ist hier ein solcher Quatsch gesprochen worden.“
Geistlose Zwischenrufe
Konrad Weiß (Grüne) muss sich gegen den Vorwurf wehren, zum Gesetzesbruch aufzurufen. Peter Hintze (CDU) beklagt „geistlose Zwischenrufe“ – immer wieder schreitet die Sitzungsleitung ein. Weiß verteidigt das Asylrecht, das individuell und einklagbar sein müsse – eine Konsequenz aus der Nazizeit: „Wir dürfen es nicht zulassen, dass dem dumpfen Wahn der Nationalisten, ihrem Gebrüll und ihrer Gewalt Grundwerte unserer Demokratie geopfert werden.“
„Vor der Abschiebung aus der Bundesrepublik wird dem Flüchtling jeder noch so minimale Rechtsschutz verweigert“, rügt der FDP-Innenpolitiker Burkhard Hirsch. Dagegen wirbt Hans-Ulrich Klose (SPD) dafür, das Grundgesetz zu ändern: „Ein Recht auf ein Verfahren in einem Land ihrer Wahl gibt es für Asylbewerber nicht.“
Tumulte
Gregor Gysi sorgt für einen Tumult mit seiner Feststellung: „Sie werden es noch erleben: Wer heute der faktischen Abschaffung des Asylrechts zustimmt, muss wissen, dass er Mitverantwortung trägt, wenn eines Tages an den Grenzen auf Flüchtlinge geschossen wird.“
93 Redner und zehn Stunden später melden die Nachrichtenagenturen: „Bundestag beschließt Grundgesetzänderung. 521 gegen 132 Stimmen für neues Asylrecht.“ Am 1. Juli 1993 tritt die Neuregelung in Kraft. Kommentar „Pro Asyl“: „Das ist ein Sieg der Straße und eine Niederlage des Rechtsstaates.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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